Der Aufruf der ehemaligen Kanzlerin Angela Merkel (70) hat offenbar gewirkt. Im Gegensatz zum Mittwoch blieb die CDU/CSU am Freitag mit einem Gesetz zur Eindämmung der Zuwanderung mit 350 gegen 338 Stimmen erfolglos. Merkel hatte den Bürgerlichen im Bundestag ins Gewissen geredet, weil sie in der ersten Debatte die Hilfe der rechten AfD akzeptiert hatten.
Bei der Debatte am Freitag zur «Asyl-Wende» flogen erneut die Fetzen. Linke Parteien wie die SPD und die Grünen drängten Kanzlerkandidat Friedrich Merz (69) und seine Union in die rechte Ecke. Linksextreme stürmten und verwüsteten in mehreren Städten die CDU-Parteizentralen.
Die aktuellen Debatten liefern uns vier Erkenntnisse über die deutsche Politik.
Deutschland tickt anders
Was ist schon daran, wenn eine – wenn auch umstrittene – Partei einer anderen Partei zu einem Abstimmungssieg verhilft? Aus Schweizer Sicht wohl nichts, da die AfD die Sitze im Bundestag nicht gewaltsam an sich gerissen, sondern sie nach einer demokratischen Wahl gewonnen hat. Alles legal, das ist Demokratie.
Aber viele Deutsche ticken wegen ihrer belasteten Geschichte anders. Um jeden Preis wollen sie verhindern, dass das Erstarken der Rechten wieder in einer Katastrophe wie 1939 endet. Auch damals waren die Nationalsozialisten zuvor auf demokratischem Weg ins Parlament gewählt worden.
Das Thema AfD beschäftigt das deutsche Parlament so stark, dass der Inhalt der Vorstösse in den Debatten teilweise zum Nebenschauplatz wurde.
Kein Plan mit der AfD
Zum Umgang mit der AfD gibts viele Meinungen. Aber keine gemeinsame Lösung. Eines ist klar: Die AfD erstarkt, weil viele Deutsche mit der bisherigen Politik nicht zufrieden sind. Es gibt drei Möglichkeiten, mit der AfD umzugehen:
Ausschliessen: Die andern Parteien verweigern jegliche Zusammenarbeit, wie es gerade jetzt passiert. Es ist nicht auszuschliessen, dass die AfD als Verstossene erst recht an Zulauf gewinnt.
Integrieren: Man reicht ihr die Hand, schmiedet mit ihr sogar eine Regierungskoalition. So werden die Rechten von der Opposition in die Verantwortung gezogen, womit sie automatisch an Aggressivität verlieren.
Anpassen: Die andern Parteien erkennen das Bedürfnis vieler Deutschen und richten ihr Programm danach aus. So wie es die CDU unter Friedrich Merz mit der Verschärfung des Asylwesens tut. Damit hofft er, Wähler zu behalten und gleichzeitig die AfD zu schwächen.
Merkel wird zur Altlast
Altkanzlerin Merkel schwebt wie ein Gespenst über Merz. Schon 2004 stand sie ihm vor der Sonne, als sie ihn nach einem langen Machtkampf als Fraktionschef im Bundestag verdrängte. Jetzt, wo er endlich auf dem Weg zum Kanzler ist, bezeichnete sie Merz’ Vorgehen als «falsch» und spaltet somit die CDU.
Merz schiebt der CDU unter Merkel eine «gehörige Mitverantwortung» für die unkontrollierte Einwanderung und den Aufstieg der AfD zu. Es waren Attentate von Immigranten, die Merz dazu brachten, die lose Asylschraube anzuziehen.
Missratener Neustart
Deutschland will Veränderung und setzt daher auf Neuwahlen, die am 23. Februar stattfinden. Die Zeichen für einen gelungenen Neustart stehen nach dem Ampel-Streit und nun nach den Migrationsdiskussionen äusserst schlecht.
Friedrich Merz, dessen CDU in Umfragen klar vor der AfD führt und der daher als Kanzler im Vordergrund steht, ist schon vor den Wahlen angeschlagen. Dirk Wiese (41), Vize-Fraktionschef der wahrscheinlichsten Koalitionspartnerin SPD, beschimpft Merz als «kopflos, planlos, skrupellos».
Was, wenn die SPD ihre Zusammenarbeit in der Regierung verweigert? Da Merz erneut bekräftigt hat, nicht mit der AfD zusammenarbeiten zu wollen, dürfte es wegen fehlender potenter Koalitionspartner erneut zu Neuwahlen kommen. Und Deutschland stünde vor einem weiteren Scherbenhaufen.