Ohne Schutzkleidung und mit rostigen Waffen sollen russische Mobilisierte in den Ukraine-Krieg geschickt worden sein. Abgehörte Telefonate und Berichte von Soldaten zeichnen ein düsteres Bild über die Zustände in Wladimir Putins (70) Armee. Doch auch im ukrainischen Militär gibt es Probleme, erzählt der Scharfschütze Konstantin Proschinskij (53), der den Krieg hautnah miterlebt.
«Die Männer werden unvorbereitet an die vorderste Front geschickt», sagt Proschinskij in einem Interview mit dem ukrainischen Politologen und Journalisten, Juri Romanenko (45). «Diabetiker, Menschen mit Hepatitis, Tuberkulose – ihnen wird eine rostige Kalaschnikow in die Hand gedrückt, und dann werden sie nach Bachmut entsandt», beklagt er die Situation. «Teilweise sind die jüngsten in der Truppe 53 und die ältesten 59 Jahre alt. Sie haben noch zu Sowjetzeiten das letzte Mal eine Waffe in der Hand gehalten, wenn überhaupt.»
«Das ist absolut beschissen»
Auch die aktuellen Mobilisierungsvorgänge in der Ukraine kritisiert der erfahrene Soldat. Im ganzen Land sind spezielle Trupps unterwegs, die Männer im wehrfähigen Alter auffordern, sich für Eignungstests im nächsten Rekrutierungszentrum zu melden. Das bestätigte auch der Blick-Dolmetscher Sergej Okischew. Auch er muss antraben.
Proschinskij beobachtete mehrfach, wie auch unerfahrene junge Männer direkt im Gefecht landen. «Meine Kollegen erzählen mir, dass sie die Männer an die Front bringen, aber ohne sie zurückkehren», sagt der Scharfschütze. Die Kommandeure würden ihnen keine Zeit geben, die Neulinge angemessen einzuführen.
«Statt sich eine Strategie zurechtzulegen und auch mal abzuwarten, stürmen sie, ohne nachzudenken, nach vorne. Ohne Unterstützung und ohne Panzerfahrzeuge. Das ist absolut beschissen.» Zudem würden die regulären Truppen viel zu selten abgelöst werden. «Wir sind nach sechs Monaten immer noch im Kriegsgebiet.»
Dies sei für die Ukrainer besonders verheerend, weil sich das russische Militär seiner Meinung nach verbessert habe. «Zunächst griffen sie häufiger frontal an und nahmen dabei schwere Verluste in Kauf. Jetzt greifen sie in Gruppen von sechs bis zwölf Männern an.»
30 Prozent der Ukrainer wollen Kriegsende um jeden Preis
Der Scharfschütze befürchtet, dass Russland noch nicht das gesamte Kampfpotenzial ausgeschöpft hat. «Wenn Sie mich nach meiner persönlichen Meinung fragen, dann sehe ich im Moment keine Chance, zu den territorialen Grenzen von 1991 zurückzukehren», sagt er.
Dennoch, findet Proschinskij, habe die Ukraine bereits einen entscheidenden Sieg errungen. «Ich glaube nicht, dass es Putins Ziel war, Gebiete zu erobern. Er wollte die Staatlichkeit der Ukraine zerstören, aber das wird er nicht erreichen», glaubt der Soldat. «Wir können theoretisch einen Teil unserer Oblaste verlieren, darauf sollten wir vorbereitet sein. Aber wir werden unsere Staatlichkeit als Land nicht verlieren.»
«Wir hätten kein Problem damit, Gebiete abzutreten»
Der Journalist Romanenko hakt nach: «Unsere Populisten sagen oft, dass wenn im Rahmen von Verhandlungen die Grenzen entlang der Demarkationslinie festgelegt werden, es in der Armee einen Aufstand geben wird. Was ist deine Antwort aus der Armee darauf?» Proschinskij zeichnet folgendes Stimmungsbild: «Ich kann nicht für die ganze Armee sprechen. Aber was mich und diejenigen Soldaten, die mit mir dienen, angeht, kann ich sagen: Wir hätten damit absolut kein Problem.»
In der Ukraine setzt offenbar langsam eine Kriegsmüdigkeit ein. Einer Umfrage zufolge befürworteten Ende Juli 30 Prozent der Ukrainer ein baldiges Kriegsende um jeden Preis. Auch wenn das bedeutet, Teile der Ukraine nicht mehr zurückerobern zu können. Das berichtet die Nachrichtenseite «Strana».
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) betont derweil immer wieder: «Die Rückeroberung der gesamten Ukraine, inklusive Krim, bleibt Kriegsziel.» Putin verlangt seit Einmarsch in die Ukraine, dass die Regierung in Kiew die Regionen Luhansk, Saporischschja, Cherson und Donezk sowie die bereits seit neun Jahren annektierte Krim als Teile von Russland anerkennt.