Der Fluss Dnjepr teilt die Oblast Cherson in zwei Teile. Im November, kurz nachdem der russische Präsident Wladimir Putin (70) die Region annektiert hatte, mussten sich seine Soldaten auf die linke Uferseite zurückziehen. Seither werden die Gebiete rechts des Ufers, inklusive der Grossstadt Cherson mit 40'000 Einwohnern, von der Ukraine kontrolliert, während Russland die Dörfer links vom Ufer besetzt – zumindest bis jetzt.
Vergangenen Dienstagmorgen war es ukrainischen Truppen gelungen, den Dnjepr zu überqueren. Der Telegramkanal Dwa Majora verkündete, dass «bis zu sieben Militärboote» in der Nähe des Dorfs Kosatschi Laheri angekommen seien. Nach Angaben des Kanals lieferte sich das russische Militär mit den Ukrainern ein Gefecht, woraufhin die Russen einen Teil ihrer Truppen evakuiert haben sollen. Die genauen Geschehnisse blieben aber unklar.
Nun soll es der Ukraine auch gelungen sein, erste Gebiete südlich des Dnjepr zu befreien. In einem Update der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) heisst es am Sonntag, die Ukraine habe bereits 800 Meter der russischen Verteidigungsanlagen durchbrochen. Das klingt zwar nicht nach viel, könnte aber der Anfang einer grösseren Operation sein.
Ukrainische Armee zufrieden
«Wenn es den Ukrainern gelingt, grössere Brückenköpfe zu errichten, können die Truppen und von dort aus die russischen Stellungen auf breiter Front angreifen», erklärt Marcel Berni (35), Strategieexperte an der ETH-Militärakademie. Deshalb sei die Operation von taktischer Bedeutung. Seit der Sprengung des Staudamms bei Nowa Kachowka sei es ausserdem einfacher geworden, den Dnjepr zu überqueren.
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Die ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar (45) sagt am Montag, dass militärische Aufgaben am linken Dnjepr-Ufer «erfolgreich abgeschlossen» wurden. «Natürlich können wir nicht verraten, was gemacht wurde, aber wir haben diese Aufträge erfüllt», erklärt sie. Konkret könnte das bedeuten, dass die Ukraine bald weiter in Richtung der besetzten Gebiete von Cherson vordringt.
«Schwierige Situation in Richtung Cherson»
Die Russen stecken immer mehr im Dilemma. «Es bleibt eine schwierige Situation in Richtung Cherson», schreibt der prorussische Militärblogger Rybar am Montag. «Das ukrainische Militär hat einen Brückenkopf westlich von Kosatschi Laheri aufgebaut und hält ihn.» Wenn es der Ukraine tatsächlich gelungen ist, eine Festung auf der anderen Uferseite aufzubauen, könnte diese als Ausgangsbasis für weitere Kampfhandlungen dienen.
«Die Kommandoaktionen auf der linken Seite des Dneprs bezwecken primär zwei Ziele», analysiert Experte Berni die Situation. «Erstens will sich die Ukraine ein Aufrollen der russischen Front aus dem Westen unter Ausnutzung der offenen Flächen in Richtung Melitopol und Krim offenhalten», meint er. Und: «Zweitens zwingen die unberechenbaren Flussüberquerungen der Ukraine die russischen Besatzer immer wieder, neue Truppen in den entfernten westlichen Teil der Front abzustellen.»
Ukraine nimmt Offiziere gefangen
Nun stecken die Russen in einem Dilemma: Entweder schicken sie mehr Truppen in das Gebiet und verhindern, dass die Ukraine weitere Dörfer befreit, oder sie verstärken die bestehenden Truppeneinheiten in den wichtigsten Kampfzonen der Gegenoffensive, analysiert der britische Geheimdienst am Montag die Situation.
Auch ist es der Ukraine offenbar gelungen, den russischen Offizier Juri Anatolewitsch, auch bekannt als Major Tomow, gefangenzunehmen. Der ukrainische Telegramkanal Grey Zone veröffentlichte ein Video, auf dem er russische Positionen preisgibt. 25 weitere Soldaten sollen ausserdem eliminiert worden sein.
Derzeit greifen ukrainische Einheiten in Donezk an. So etwa in den Dörfern Klischtschijiwka und in Uroschajne. Aus letzterem gibt es unterschiedliche Berichte über die Lage. Einige russische Quellen behaupten, dass sich die russischen Streitkräfte komplett zurückgezogen hätten. Von anderen Kanälen ist indes zu hören, Putins Truppen hätten sich lediglich in den südlichen Teil des Dorfs zurückgezogen. Militärexperte Berni sagt: «Der Hauptfokus der ukrainischen Offensive liegt weiterhin auf der Region Saporischschja. Der Fokus der russischen Gegenangriffe liegt dagegen auf dem Osten.»