Das Monument seiner Macht war in den über 20 Jahren seiner Regentschaft in klare Linien gemeisselt. Wladimir Putin (70), allmächtig und furchtlos. Erbarmungslos und brutal gegen seine politischen Gegner. Autoritär sogar mit Russlands Geldelite. Militärisch hochgerüstet ist der moderne Zar lange Zeit weltweit gefürchtet. Diese Stärke legitimierte dem Präsidenten stets seine Dauerherrschaft.
Seit dem vergangenen Wochenende wankt das Denkmal des Kreml-Chefs. Erschüttert durch die bewaffnete Rebellion eines Söldnerheeres, das offen mit einem Militärputsch droht. Doch statt den Aufstand gewaltsam niederzuschlagen, lässt Putin seinen ehemaligen Koch, Jewgeni Prigoschin (62) und dessen Wagner-Gruppe, fast widerstandslos das wichtigste militärische Hauptquartier der russischen Armee im Süden des Landes einnehmen und bis auf 200 Kilometer vor Moskau marschieren. Beobachter reiben sich die Augen.
Prigoschin darf ins Exil – ohne Strafverfolgung
In einer TV-Ansprache am Samstagabend vergleicht Putin den Vormarsch der Privatmiliz mit der Revolution von 1917. Er nennt die Rebellen Verräter, kündigt harte Strafen an. Dann aber lässt er einen ausländischen Machthaber, den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, den aufmüpfigen Wagner-Chef zurückpfeifen, krebst schliesslich öffentlich zurück. Prigoschin darf ins belarussische Exil – ohne Strafverfolgung. Auch seinen Söldnern drohe kein Prozess, so das Versprechen Putins. Und das in Russland, wo der kleinste, noch so stille Protest niedergeknüppelt wird.
Warum hielten Armee und Nationalgarde nicht den Vormarsch der Rebellen auf? Gibt es gar heimliche Allianzen zwischen Militäreinheiten und der Wagner-Gruppe? Ist Putin tatsächlich sein Imperium entglitten? Oder, wie so manche Zweifler kühn zu spekulieren beginnen, ist Prigoschin nicht mehr als eine Marionette des Kreml-Chefs und der versuchte Putsch von ganz oben orchestriert? Weitergesponnen: Sollte ein drohender Putsch Russland in derartige «Gefahr» versetzen, dass Kriegsrecht und somit eine militärische Mobilisierung gerechtfertigt werden?
«Putin wird Prigoschin in Belarus töten lassen»
Für die meisten internationalen Beobachter ist Putins Zaudern ein klares Zeichen von Kontrollverlust. In seiner jüngsten Analyse erkennt das Institute for the Study of War (ISW) klare Schwächen der internen Sicherheit. Selenski-Berater Mychajlo Podoljak (43) sieht in der Wagner-Revolte «den Anfang des Endes Putins» und Möglichkeiten, dass sich russische Streitkräfte der Wagner-Gruppe anschliessen könnten, so Podoljak im Interview mit «La Repubblica».
Seit Monaten darf Jewgeni Prigoschin gegen die russische Kriegsführung wettern, der Militärelite Unfähigkeit vorwerfen. Putin lässt ihn gewähren. Er wird nicht abgemahnt, verhaftet oder gar gemeuchelt. Warum zaudert Putin, wenn es um Prigoschin geht? Hat er die Macht des Unternehmers unterschätzt? Oder sind ihm die kämpferischen Wagner-Söldner militärisch so wichtig?
Das Monster, das Putin einst schuf, treibt den Kreml-Zar nun in die Ecke. Putin verzeihe nie seinen Verrätern. Und Prigoschin sei nun einer davon, ist Jill Dougherty (74) überzeugt. «Es ist gut möglich, dass Prigoschin im Exil getötet wird», so die ehemalige Leiterin des Moskauer CNN-Büros.
Die aktuelle Krise wird Putins Argwohn schüren und macht ihn noch gefährlicher und unberechenbarer – für seine Gegner oder für all jene, die Putin für seine Gegner hält. Die versuchte Revolte reiht sich ein in die vielen militärischen und politischen Niederlagen, die Putin seit Kriegsbeginn in der Ukraine einstecken musste. Der Präsident braucht dringend einen Erfolg. Vor allem einen militärischen. Das macht ihn auch für die Ukraine noch gefährlicher.