Atomkraftwerke aus, Atom-Importe an! So titelt Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung am Tag nach dem Atomausstieg. Und «Bild» rechnet vor, was das Land – zumindest in den Stunden nach Abschalten seiner AKW – gewonnen beziehungsweise verloren hat. Vier Gigawatt (GW) gingen am 15. April vom Netz. Rund 4,7 Gigawatt mehr importierte Deutschland unmittelbar nach dem historischen Schritt.
Am 19. März sei die Ausgangslage nahezu identisch gewesen. Daher zieht die deutsche Zeitung folgenden Vergleich. An beiden Morgen habe die Stromlast in Deutschland rund 38 GW betragen, bei ähnlichen Wetterverhältnissen. An beiden Sonntagmorgen betrug die Windenergie acht bis neun GW, die Solarerzeugung lag im Morgengrauen noch nahe bei 0. Doch während Deutschland am Morgen des 19. März gerade 1,3 GW importierte, bezog es am 16. April bereits über sechs GW.
Günstiger Atomstrom zu kaufen, als Kraftwerke anzuschmeissen
Das also, was an Stromerzeugung abgeschaltet wurde, musste gleich danach aus dem Ausland importiert werden. Und: Der Stromimport sei vor allem aus französischen AKW gekommen, schreibt «Bild». So zeigten Daten von Electricity Map, dass am vergangenen Sonntagmorgen um vier Uhr, die Franzosen Atomstrom für knapp drei Prozent des Energiebedarfs an Deutschland lieferten.
Deutschland ist zwar Europas Vorreiter in Sachen Atomausstieg, doch ganz ohne Atomenergie geht die Stromversorgung des Landes auch nicht. «Technisch könnte sich Deutschland, dank seiner erneuerbaren Energien und seiner Gas- sowie Kohlekraftwerke, durchaus ohne Atomstrom versorgen», sagt Volker Quaschning (53) im Blick-Gespräch, «doch manchmal ist es halt günstiger, Strom aus dem Ausland zu kaufen, als die eigenen Kraftwerke anzuschmeissen».
Wäre Deutschland eine Insel, würde es sich komplett selbst versorgen können, sagt der Professor für Regenerative Energiesysteme an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft. In einigen Jahren würden Solar- und Windenergie den Grossteil der Stromversorgung sichern, «bei Stromflauten wird Deutschland sicher auch in Zukunft hin und wieder günstigen Atomstrom aus dem Ausland kaufen».
Deutschland hat meist mehr Strom exportiert als importiert
Dass Deutschland am Sonntagmorgen Atomstrom aus Frankreich importiert habe, sei also aus rein wirtschaftlichen Gründen geschehen und liege am Angebot im europäischen Verbundnetz. Frankreich habe in den Tagen auch noch Solar- und Windstrom gehabt und Energie günstig anbieten können. «Eigentlich hat Deutschland immer mehr Strom exportiert, als importiert. Der Exportanteil wird erst einmal zurückgehen», sagt Quaschning.
Zwölf der 27 EU-Länder setzen weiterhin auf Atomkraft. Sie verlängerten die Laufzeiten ihrer Meiler oder bauen neue Kernkraftwerke, berichtet der WDR. Frankreich ist mit seinen 56 Reaktoren, nach den USA, der zweitgrösste Hersteller von Atomenergie weltweit. Deutschlands direkter Nachbar prüft zudem den Bau von weiteren 14 AKWs. Allerdings sind 20 Reaktoren schon über 40 Jahre oder länger in Betrieb.
Europäische Nachbarn setzen auf Atomenergie
In der Energiekrise plant Polen den Einstieg in die Atomenergie und will sechs neue Atomkraftwerke errichten. Die Niederlande wollen in den kommenden zwölf Jahren mit zwei neuen Reaktoren ans Netz gehen. Neue Atomkraftwerke entstehen zurzeit auch in Grossbritannien, Ungarn und in der Slowakei. Länder wie Schweden oder Belgien wollen ihre Kraftwerke länger als geplant in Betrieb lassen. Deutschlands Entscheidung ist daher eher eine politische als eine pragmatische.
Angesichts der Reaktorkatastrophe in Fukushima (Japan) habe Deutschland 2011 parteiübergreifend und im gesellschaftlichen Konsens den Ausstieg beschlossen, sagt Volker Quaschning, «jetzt wurde er vollzogen».