Giorgio Brizio (20) kneift den Mund zusammen, er beugt sich nach vorne, sichtlich angespannt. Der Gesichtsausdruck des italienischen Klimastreik-Aktivisten schwankt irgendwo zwischen Bekümmertheit und Wut. Kein Wunder: Gleich zum Start des Gipfeltreffens von Fridays for Future in Turin muss er eine schlechte Nachricht übermitteln: Greta Thunberg (19), quasi die Star-Teilnehmerin, hat kurzfristig abgesagt.
Der 20-Jährige hoffe, sagt er eindringlich, dass die Thunberg-Absage jetzt nicht das Hauptthema werde. Die Bewegung bestehe schliesslich aus viel mehr als aus Greta.
«Sie hat Fridays for Future auch nicht gegründet», stellt Brizio klar. «Greta war nicht mal nicht die Erste, die fürs Klima gestreikt hat.» Er erwähnt Jamie Margolin, eine 21-jährige kolumbianisch-amerikanische Aktivistin, von der sich Greta angeblich inspirieren liess. Es ist ihm wichtig, das zu betonen.
Denn die Klimastreik-Bewegung Fridays for Future will sich knapp vier Jahre nach ihrer Entstehung von alten Strukturen lösen – und von ihrer Anführerin. Eine «De-Gretaisierung» nennt es das italienische Nachrichtenportal TPI gar. Das Ziel: Mehr Macht für Viele, statt viel Macht für Einzelne.
Greta Thunberg und Luisa Neubauer dominieren
«Seit Beginn haben wir gesagt, dass wir hierarchiefrei sein wollen – und trotzdem sahen viele Greta als Anführerin», sagt der Schweizer Jann Kessler (26) zu Blick. Er fordert, die Bewegung müsse alte Dominanzmuster loslassen. Und er weiss: Das ist nicht allein ein Greta-Problem.
Fast in jedem Land gibt es prominente Gesichter, die die Bewegung prägen – in Deutschland etwa Luisa Neubauer (26). Aktivistinnen wie sie sind Segen und Fluch zugleich. Sie gehen voran, machen die Bewegung sichtbar, reden in Talkshows. Doch schnell fühlen sich andere überrannt und ausgeschlossen.
Eine deutsche Klimastreik-Aktivistin findet dafür klare Worte: «Die Strukturen sind einfach scheisse.» Seit einem Dreivierteljahr engagiert sie sich in einer Lokalgruppe. Und ist schon jetzt frustriert. Die Basisdemokratie der Bewegung funktioniere nicht: «Auf Bundesebene machen Luisa Neubauer und ihre Freunde, was sie wollen.»
Klimastreikende wollen Hierarchien abbauen
Kein Einzelfall. In Turin, wo sich fünf Tage lang 450 Klimastreikende aus ganz Europa versammelt haben, um über die Zukunft von Fridays for Future zu sprechen, steht «Horizontality & Transparency» daher auf der Tagesordnung. In mehreren Sessions wird über ungewollte Hierarchien und ihren Abbau diskutiert. Teilnehmende, die dabei waren, beschreiben die Diskussionen als konstruktiv. Doch ob sich wirklich etwas ändert?
«Das glaube ich nicht», sagt ein portugiesischer Aktivist ernüchtert. «Am Tisch sitzen bei solchen Diskussionen nur diejenigen, die das Thema bewegt. Das sind nicht unbedingt diejenigen, die in der Bewegung wirklich Macht haben. Und am Ende gibt es keine Prozesse, um das, was besprochen wurde, umzusetzen.»
Andere sind optimistischer. In Frankreich etwa haben die Aktivistinnen und Aktivisten damit begonnen, gegenüber Medien nur noch mit Pseudonym zu sprechen – und zwar eines für alle. Der Schweizer Klimastreik bemüht sich schon seit Beginn um ein «rotierendes System».
MAPA-Aktivistin: «Wir sind auf die Europäer angewiesen»
Auch Jan Kessler hat für sich Konsequenzen gezogen. Anfangs eins der prominentesten Gesichter der Schweizer Klimastreik-Bewegung hat sich der Vollzeit-Aktivist bewusst aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.
Stattdessen schreibt er etwa Artikel fürs interne Klimastreik-Wikipedia. Wenig glamourös, aber wichtig, damit sich Wissen nicht auf wenige Köpfe verteilt und die Bewegung zugänglicher ist. Einfach sei das nicht immer, gibt Kessler zu: «Ich habe viel Selbstwert aus meinem Aktivismus gezogen. Wenn ich aktiv Macht abgebe, tut das natürlich weh.»
Und es geht den Aktivistinnen und Aktivisten nicht nur darum, gerechtere Strukturen in ihren Landesgruppen zu schaffen. Die Bewegung will die Klimagerechtigkeit, die sie fordert, selbst leben, inklusiver und anti-rassistischer sein. Bedeutet: Global sollen nicht mehr (weisse) Einzelpersonen und westliche Ländergruppen den Ton angeben, sondern zunehmend die am stärksten von der Klimakrise betroffen Menschen und Regionen.
«Offener Protest ist für viele von uns sehr gefährlich. Wir sind deswegen darauf angewiesen, dass sich die Europäer für uns einsetzen und genau darauf schauen, was etwa ihre Firmen in unseren Ländern anrichten», sagt Michelin Sallata (25) vom Volk der Toraja in Indonesien.
De-Gretaisierung, damit andere Themen durchdringen
Die Indigene gehört zu den sogenannten MAPA-Aktivistinnen (most affected people and areas, übersetzt: «am meisten betroffene Menschen und Gebiete»), die extra nach Turin eingeladen wurden, um die Strukturen aufzubrechen. «Hier zu sein, ist grossartig. Wir haben nicht erwartet, dass die europäischen Aktivisten so unterstützend sind. Wir bekommen viel Zeit, um unsere Themen anzubringen und die Europäer wollen wirklich wissen, was sie tun können.»
Etwa in Sachen Eacop (East African Crude Oil Pipeline, übersetzt: «Ostafrikanische Rohölpipeline»). Die geplante Giga-Öl-Pipeline von Uganda bis an die tansanische Küste ist höchst umstritten, weil sie Mensch und Tier gefährdet – und sich erst rentieren würde, wenn der Betrieb mit den globalen Klimazielen gar nicht mehr vereinbar ist.
Mit der UBS und der Credit Suisse haben auch zwei Schweizer Banken ihre Finger im schmutzigen Geschäft. Für den Eacop-Workshop der ugandischen Aktivistin Patience Nabukalu am Dienstagnachmittag interessieren sich darum auch mehrere Delegierte des Schweizer Klimastreiks.
Klimajugend interessiert sich für radikale Gruppen
Für die Bewegung kann das eine Chance sein – aber sie läuft auch Gefahr, sich noch weiter zu verzetteln. Schon jetzt sind die Aktivistinnen und Aktivisten vielerorts überfordert und frustriert, dass der reine Strassenprotest nicht mehr zieht. Eine Identifikationsfigur wie Thunberg bietet dagegen klare Orientierung.
Fällt sie weg, steigen Aktivistinnen und Aktivisten aus oder schauen sich anderweitig um. Etwa bei radikaleren Gruppierungen wie Extinction Rebellion (XR), Ende Gelände oder Die letzte Generation, die auch in Turin sichtbar vertreten waren, Workshops anboten und an Diskussionen teilnahmen. Beim ersten Fridays-for-Future-Gipfeltreffen vor drei Jahren in Lausanne VD hatte die Zusammenarbeit mit radikaleren Gruppierungen noch für Zoff und Tränen gesorgt, jetzt gehört sie selbstverständlich dazu.
Wie Greta das wohl findet? Unklar. Die Klima-Ikone, die sich als «ganz normale Teilnehmerin» angekündigt hatte, dann aber kurzfristig wegen «logistischer Probleme» entschuldigte, schaltete sich nur zur Eröffnung des Gipfeltreffens am Montagnachmittag virtuell zu. Sie dankte den Organisatoren und wünschte ein erfolgreiches Treffen.
Weiter erklärte sie ihr Fernbleiben nicht. Für die meisten der Teilnehmenden in Turin offenbar okay: Jede und jeder von ihnen müsste das ja auch nicht.