Was für eine Schmach für den russischen Präsidenten Wladimir Putin (71)! Ohne grosse Gegenwehr sind ukrainische Truppen am 6. August bei Sumy in Russland eingedrungen und haben inzwischen 82 Ortschaften auf rund 1150 Quadratkilometern erobert.
Ziel der Invasion der 18. stärksten Armee im Land der zweitstärksten Armee: Laut Präsident Wolodimir Selenski (46) wollen die Ukrainer eine «Pufferzone auf dem Territorium des Aggressors» schaffen. Sie sind auf bestem Weg dazu, denn Putins Soldaten versagen bei der Abwehr.
Bereits ist es den Ukrainern auch gelungen, drei wichtige Brücken zu zerstören und so die Versorgung russischer Truppen zu bremsen. Die rund 12'000 Mann starke ukrainische Truppe soll zudem laut der georgischen Antikriegsbewegung Idite Lesom bereits rund 2000 russische Soldaten in Kriegsgefangenschaft genommen haben.
Viele Unerfahrene an der Front
Je mehr Gefangene, desto besser für die Ukraine, denn sie sollen gegen möglichst viele inhaftierte Ukrainer ausgetauscht werden. Bei den gefangenen Russen soll es sich vor allem um junge Soldaten handeln, die erst vor zwei Monaten in die Armee eingezogen worden waren.
Zwar ist es der russischen Abwehr gelungen, den Ukrainern massive Verluste von wertvoller Technik wie von Panzern, gepanzerten Fahrzeugen und schweren Waffen zuzufügen, schreibt das Wirtschaftsmagazin «Forbes». Dennoch sind die Ukrainer nicht zu stoppen.
Falsche Strategie der Russen
Laut Marcel Berni (36), Stratege an der Militärakademie der ETH Zürich, ist der ukrainische Erfolg auf drei Punkte zurückzuführen:
Der Vormarsch kam überraschend, und die Ausweitung erfolgt kontinuierlich. Berni: «Darauf haben die Russen bisher nur langsam und unkoordiniert reagiert.»
Statt auf kampferprobte Truppen aus dem Donbass setzt Moskau auf weniger kampferfahrene Wehrpflichtige.
Die geografische Entfernung zwischen dem Donbass und Kursk erschwert die schnelle Truppenverschiebung. «Deswegen greift die Ukraine nun Versorgungswege und Brücken an», sagt Berni.
In Russland wird es zudem immer schwieriger, Soldaten zu rekrutieren – und dies, obwohl die Verdienstmöglichkeiten sehr gut sind und zahlreiche Zückerchen wie etwa vorteilhafte Hypotheken geboten werden. Russland-Experte Ulrich Schmid (58) von der Uni St. Gallen sagt gegenüber Blick: «Trotz der Propaganda weiss man in Russland mittlerweile sehr genau um die hohen Risiken eines Kampfeinsatzes in der Ukraine.»
Putin in Zwiespalt
Der ukrainische Gegenschlag bringt Putin in ein Dilemma. Schmid: «Auf der einen Seite muss er am selbst erschaffenen Mythos der Unbesiegbarkeit der russischen Armee festhalten, auf der anderen Seite muss er den ukrainischen Angriff zurückschlagen.»
Sein gesamtes politisches Kapital in den vergangenen zwanzig Jahren beruhe darauf, dass er sich als Garant für Sicherheit und Stabilität präsentieren konnte. Schmid: «Und nun ist Putin nicht einmal in der Lage, die angestammten Grenzen des eigenen Landes zu verteidigen.»
Holt Putin die Atombombe?
Die Ukrainer sind zwar in Russland auf Erfolgskurs, bewegen sich aber auf heissem Territorium. Immer wieder hat Moskau Kiew beim Überschreiten von angeblich roten Linien mit dem Einsatz von Atombomben gedroht.
Dass Putin jetzt keine atomare Antwort liefert, hat mehrere Gründe. Schmid: «In Moskau herrscht die Doktrin, dass man Atomwaffen nur einsetzt, wenn die Staatlichkeit bedroht ist.» Aus Sicht des Kremls finde der Krieg bereits seit Herbst 2022 in von Russland annektieren Gebieten und somit auf «russischem Boden» statt – und nie wurde die Atombombe eingesetzt.
Nebst einem Eingeständnis von Schwäche wäre der Einsatz zudem ein Grund für Peking, die Freundschaft mit Moskau zu beenden.
Marcel Berni hat eine weitere Erklärung für die Zurückhaltung Putins mit der Atombombe: «Russland hat Angst vor einem amerikanischen Gegenschlag als Antwort auf einen Einsatz von Massenvernichtungswaffen.» Daher glaubt Berni, dass der Krieg zwar intensiviert, aber weiterhin von beiden Seiten im konventionellen Rahmen geführt werde.