«Sogar Tiere haben mehr Moral als Sie, russischer Staat», sagte Präsident Wolodimir Selenski in seiner am Sonntag in Kiew verbreiteten allabendlichen Videobotschaft. «Russische Terroristen beschiessen weiter Evakuierungswege, Evakuierungspunkte, Boote, die die Menschen wegbringen.»
Ein solches Boot mit 21 Menschen war laut ukrainischen Behörden am Sonntag von Russen beschossen worden, während die Zivilisten sich aus dem russisch besetzten Teil des Gebiets Cherson im Süden des Landes in Sicherheit bringen wollten. Drei Menschen seien getötet und zehn verletzt worden. Die Angaben liessen sich nicht unabhängig bestätigen.
Blick informiert im Ticker Live über die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine.
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Erst habe Russland den Kachowka-Staudamm gesprengt, dann die Menschen in dem Überschwemmungsgebiet ihrem Schicksal überlassen, und nun werde auch noch auf sie geschossen, wetterte Selenski. Er sagte, Vertreter des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag hätten sich in Cherson selbst ein Bild von der Lage gemacht und mit der Untersuchung der Katastrophe begonnen. Das rechte Ufer des Dnipro-Flusses ist unter ukrainischer Kontrolle.
«Dieses Untersuchung ist sehr wichtig für die Sicherheit der ganzen Welt», sagte Selenski. Eine Bestrafung Russlands sei Voraussetzung dafür, dass sich dieses Böse in der Welt nicht wiederhole. Selenski zufolge sind bisher etwa 4000 Menschen gerettet worden. Dutzende Städte und Dörfer seien noch überschwemmt, am schlimmsten sei die Lage weiter im russisch besetzten Teil des Gebiets Cherson auf der linken Dnipro-Uferseite. Die Evakuierung dauere an.
Nach der Zerstörung des Staudamms am Dienstag wurde die Zahl der Hochwasseropfer mit inzwischen 14 angegeben, davon acht in dem von Russland kontrollierten Teil des Gebiets Cherson. Allein dort gelten noch 35 Menschen als vermisst, darunter sieben Kinder. Zwar sinkt das Hochwasser inzwischen, aber die Folgen des Dammbruchs sind verheerend. Experten sprechen von einer schweren Umweltkatastrophe. Russland weist jegliche Verantwortung zurück und behauptet, ukrainische Kräfte hätten den Staudamm mit Raketen beschossen.
Moskau will Befehlsgewalt über Privatarmeen
Russlands Verteidigungsministerium will alle russischen Freiwilligenverbände per Anordnung unter seine Befehlsgewalt bringen. Bis zum 1. Juli müssten alle diese Einheiten einen Vertrag mit der Behörde unterzeichnen, teilte der stellvertretende Verteidigungsminister Nikolai Pankow in Moskau mit. Es gebe inzwischen mehr als 40 Freiwilligenverbände, deren rechtlicher Status so abgesichert werden solle. Der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, teilte am Sonntag mit, er weigere sich, solch einen Vertrag zu unterschreiben.
Verteidigungsminister Sergej Schoigu könne über das Ministerium und die Soldaten bestimmen, sagte Prigoschin in einer über seinen Telegram-Kanal veröffentlichten Sprachnachricht. Der Minister sei aber schon bisher nicht in der Lage, seine eigenen Truppen zu führen. Wagner werde daher keine Verträge mit Schoigu unterzeichnen. Es könne sein, dass Wagner dann keine Waffen und Munition erhalte - doch nur so lange, bis das Ministerium die Hilfe der Privatarmee brauche.
Selenskyj erweitert Sanktionsliste
Präsident Selenski teilte in seiner Videobotschaft mit, dass er weitere 178 Menschen auf eine Sanktionsliste gesetzt habe, die «dem Bösen dienen, zu dem der russische Staat geworden ist». Es gehe um Verantwortliche, die Freiheiten zerstört hätten und eine Schlüsselrolle spielten bei Repressionen in den besetzten Gebieten der Ukraine und in Russland selbst. Jeder «Komplize der russischen Diktatur» werde zur Verantwortung gezogen, versprach er.
Zugleich wies Selenski auf Erfolge im Krieg gegen Russland hin. So seien einmal mehr durch Verhandlungen 95 ukrainische Kämpfer aus russischer Gefangenschaft freigekommen. Er lobte auch das offensive Vorgehen der ukrainischen Streitkräfte gegen die russischen Besatzer. Bei einer Grossoffensive will Selenski die besetzten Gebiete des Landes befreien lassen - einschliesslich der schon 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Dabei gab es erste Geländegewinne.
Ukrainer verkünden Befreiung von Orten im Gebiet Donezk
Nach Militärangaben aus Kiew befreiten ukrainische Soldaten im grösstenteils von Russland besetzten Gebiet Donezk die Orte Blahodatne und Makariwka. Es gebe auch Vorstösse um die Stadt Bachmut, teilte Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar am Sonntagabend in Kiew mit. Von russischer offizieller Seite gab es dazu zunächst keine Stellungnahme. Die russische Armee behauptet seit Tagen, sie wehre die ukrainische Offensive ab.
Allerdings meldeten auch kremlnahe russische Militärblogger, dass Blahodatne aufgegeben worden sei, weil Moskaus Kämpfer dort eine Einkesselung befürchtet hätten. Demnach wurde zudem das Dorf Neskutschne eingenommen. Auch das Dorf Lobkowe im Gebiet Saporischschja soll von russischer Besatzung befreit worden sein. Die ukrainischen Streitkräfte führen seit Tagen unter anderem in den Regionen Donezk und Saporischschja massive Angriffe, um ihre besetzten Gebiete zu befreien.
Die russischen Truppen hätten inzwischen Kampfeinheiten aus dem Gebiet Cherson abgezogen, um so Kontingente an anderen Teilen der Front etwa im Gebiet Saporischschja und in Bachmut zu verstärken, meinte Vize-Ministerin Maljar. Sie bekräftigte ihre Überzeugung, dass Russland den Kachowka-Staudamm absichtlich zerstört habe, um das Gebiet Cherson zu fluten und so ungangbar für die ukrainischen Offensivkräfte zu machen. Ziel Moskaus sei es gewesen, auf diese Weise eigene Kräfte freizumachen für andere Einsätze.
Die Flut nach dem Dammbruch zerstörte allerdings auch russische Verteidigungsstellungen. Ziel der ukrainischen Seite soll es laut russischen Militärbloggern gewesen sein, nach Absinken des Hochwassers leichter in den nicht von ihr kontrollierten grösseren Teil des Gebiets Cherson vorzustossen.
Was am Montag wichtig wird
Bundeskanzler Olaf Scholz und Polens Staatschef Andrzej Duda werden in Paris vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu einem Abendessen empfangen, bei dem es vor allem um die weitere Unterstützung des ukrainischen Abwehrkriegs und die Vorbereitung des im Juli geplanten Nato-Gipfels in Vilnius gehen soll. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg reist zu einem zweitägigen Besuch nach Washington, wo er am Montag zu einem Gespräch mit US-Präsident Joe Biden und Aussenminister Antony Blinken im Weissen Haus erwartet wird.
(SDA)