Russland-Experte Ulrich Schmid glaubt an Wahlen 2024 ohne Kremlchef
«Wladimir Putin ist zu toxisch geworden»

Die russische Bevölkerung wehrt sich gegen die Teilmobilmachung. Der Widerstand ist sogar so gross, dass die Welt bald ein Russland ohne Wladimir Putin an der Spitze erleben könnte, glaubt Experte Ulrich Schmid.
Publiziert: 23.09.2022 um 17:46 Uhr
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Es wird einsam um den russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Foto: AFP
Chiara Schlenz

Drei Tage, 200'000 Soldaten, möglichst wenig Gegenwind und als Belohnung die Einnahme der Separatistengebiete Luhansk und Donezk: So hat sich der russische Präsident Wladimir Putin (69) seine «Spezialoperation» – den brutalen Krieg in der Ukraine – vorgestellt.

Über 200 Tage, zahlreiche militärische Pleiten gegen einen gewieften Gegner und die Verkündung einer Teilmobilmachung mit rund 300'000 Reservisten später muss sich Russland eingestehen: Der Krieg läuft nicht nach Plan. Auch in der Bevölkerung regt sich langsam, aber sicher Widerstand.

Zu spät für einen Coup gegen Putin

Ulrich Schmid (56), Russland-Experte an der Universität St. Gallen, sagt zu Blick, dass man sich im Kreml nach einem «weichen Exit-Szenario» für Putin umsehe. Und nicht nur das: «Es kann passieren, dass Putin bei den Wahlen 2024 gar nicht mehr antreten wird.»

Und was passiert nach Putin? «Ein denkbares Szenario ist, dass der Kreml der russischen Bevölkerung einen jungen, loyalen Technokraten auf dem Silbertablett servieren wird. Dessen Aufgabe wird es dann sein, Russland aus dem Sanktionsregime herauszuführen, aber auch die Privilegien der Mächtigen zu erhalten.»

Doch warum wird bis zu den nächsten Wahlen abgewartet? Warum Putin nicht direkt vom Thron stossen? Schmid erläutert: «Ein Coup gegen Putin hätte bereits zu Beginn des Ukraine-Kriegs stattfinden müssen. Nun ist es zu spät.» Denn Putin sei nicht das alleinige Problem. Auch andere Kreml-Politiker müssten ihr Gesicht wahren – und stünden deshalb weiterhin offiziell zur «Spezialoperation». Ein Regierungssturz, alleine durch die Bevölkerung ausgelöst, ist in Russland kaum möglich. Zu viel Macht hat die Regierung.

Putin, so Schmid, sei inzwischen allerdings zu toxisch geworden für Russland. Es scheint, als hätten die 300'000 mobilisierten Reservisten das Fass zum Überlaufen gebracht. Zumindest für einen Grossteil der Bevölkerung – denn noch immer melden sich viele Russen eifrig für den Krieg und unterstützen die «Spezialoperation». Das sollen zumindest Videos zeigen, die auf Twitter kursieren.

Russen melden sich freiwillig für den Krieg
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Nach Teilmobilisierung:Russen melden sich freiwillig für den Krieg

«Die Verkündung der Teilmobilmachung hat in Russland – einer Gesellschaft, die seit 20 Jahren depolitisiert wird – enorme Unruhen ausgelöst», so Schmid. Am Tag der Verkündung der Teilmobilmachung fanden in 38 russischen Städten Proteste statt – gegen den Krieg, gegen das Einbeziehen von Reservisten, gegen Putin höchstpersönlich.

Es macht sich Unmut in der Bevölkerung breit

38 Demonstrationen und 1300 Verhaftungen – eine eher kleine Zahl im Vergleich zu den Demonstrationen zu Beginn des Krieges. Doch diese kleine Menge beweist unglaublichen Mut. Protestaktionen sowie die Verweigerung von Kriegsdienst können drakonische Strafen nach sich ziehen – einigen verhafteten Demonstranten wurden offenbar noch auf dem Polizeiposten ihre Einberufungsbefehle präsentiert.

Seit dem 24. Februar kam es nach Angaben des unabhängigen Polizeimonitors OVD-Info zu rund 16'000 Protestaktionen in Russland – davon 15'000 im ersten Monat des Krieges. Dabei wurden abertausende Menschen verhaftet.

Zum Vergleich: Als Oppositionsführer Alexei Nawalny (46) am 2. Februar 2021 verhaftet wurde, kam es nur zu Demonstrationen in über 100 russischen Städten. In Moskau nahmen die Behörden nach Angaben von OVD-Info damals 1116 Protestierende fest, in St. Petersburg gab es 246 Festnahmen.

Polizei löst Demo in Russland auf
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Protest gegen Mobilmachung:Polizei löst Demo in Russland auf

Regionalpolitiker wenden sich gegen Putin

Diese Demos sind nicht die ersten Bekenntnisse des Unmuts: Bereits mehrere Lokalpolitiker aus den Stadträten in Moskau und St. Petersburg sollen Putins Amtsenthebung gefordert haben. Das Schreiben an den höchsten Russen bittet: «Wir bitten Sie, sich von Ihrem Posten zu entbinden, da ihre Ansichten und ihr Führungsmodell hoffnungslos veraltet sind».

Zwar dürften diese regionalen Vorstösse kaum fatale Folgen für Putin haben – dafür sind sie schlicht zu irrelevant. Doch sie zeigen: Man ist nicht gerade zufrieden mit dem Mann an der politischen Spitze.

Auch die russische Pop-Ikone Alla Pugatschowa (73) wendete sich erst kürzlich gegen Putin. «Russland hat sich so viele schreckliche Dinge zuschulden kommen lassen und leugnet es einfach. ‹Die Massaker von Butscha – das waren nicht wir. Die malaysische Boeing – das waren nicht wir. Mariupol dem Erdboden gleichgemacht – das waren nicht wir. (...) All das waren wir nicht.› Aber was machen wir dort dann überhaupt?», schrieb sie auf Instagram.

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