Putin-Berater über katastrophalen Zustand der russischen Truppen
«Bei einem Artillerie-Duell wird Ukraine uns wohl besiegen»

Die russische Armee scheint zunehmend mit Problemen an der Front in der Ukraine zu kämpfen. Ein russischer Regierungs-Berater nennt zwei Hauptprobleme der Truppen: den Mangel an Präzisionswaffen und Soldaten.
Publiziert: 11.08.2022 um 16:20 Uhr
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Aktualisiert: 11.08.2022 um 18:38 Uhr
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Ruslan Puchow (l.) ist der Leiter des Zentrums für Analyse der Strategie und Technologie. Puchow ist Mitglied des Expertenrats der russischen Regierung. Neben ihm ist Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu.
Foto: Facebook/Centre for Analysis of Strategies and Technologies

Wie siehts derzeit an der Ukraine-Front aus? Mit welchen Schwierigkeiten haben die russischen Streitkräfte zu kämpfen? Und welche Rolle spielen die westlichen Waffenlieferungen?

Der russische Journalist Pjotr Skorobogati hat mit Ruslan Puchow (49) über die aktuelle Kriegssituation gesprochen. Puchow leitet das in Moskau ansässige Zentrum für die Analyse von Strategien und Technologien und ist seit 2012 Mitglied des Expertenrats des russischen Verteidigungsministeriums. Er steht also nicht nur der Putin-Regierung nahe, sondern weiss als Berater auch genau, wie es um das Militär steht.

Und Puchow sieht schwarz. Die russische Armee verfüge über so gut wie keine modernen Kampfflugzeuge. Zudem fehle es an Präzisionswaffen und modernen Zielgeräten der neusten Generation. «Dadurch wird die Effektivität dieses Bomberflugzeugs noch weiter eingeschränkt», sagt er im Interview.

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«Ukrainer haben eine Menge Artillerie und Kampfflugzeuge»

Auch bei den Bodentruppen sieht Puchow Probleme. Es gebe «einen erheblichen Mangel an Infanterie». Für die Grösse der Front gebe es nicht genügend Soldaten. «Die Ukrainer sind defensiv, sie haben eine Menge Artillerie und Kampfflugzeuge. Wir hingegen müssen die Front mit einer unzureichenden Anzahl von Soldaten und mit verwundbaren Panzern durchbrechen.»

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Denn selbst «unser modernster Panzer, der T-90, ist eine Modifikation des veralteten T-72. Der T-90 ist, einfach ausgedrückt, ein Tuning eines sowjetischen Panzers.» Deswegen sei es «nicht ganz fair, von ihnen (den russischen Truppen Anm. d. Red.) zu verlangen, dass sie den neusten Panzerabwehrsystemen wie Javelin, NLAW oder Matador erfolgreich Widerstand leisten».

«Wir schiessen Hunderte, ja Tausende, ungelenkte Geschosse irgendwo hin»

Hinzu komme, dass die alte Panzergeneration auch mit alten Schutzmassnahmen ausgestattet sei. «Die Israelis haben ihre Panzer mit aktiven Schutzsystemen ausgestattet, die Amerikaner machen das auch, wir aber nicht. Ich habe also viele Frage an unser Militär.»

Wenn es um die Schutzsysteme gehe, sei es wie bei einem «Gladiatorenkampf», zieht Puchow den Vergleich. «Der eine kämpft mit Schwert und Schild, der andere mit einem Dreizack und einem Netz.»

«Wir schiessen Hunderte, ja Tausende, ungelenkte Geschosse irgendwo hin. Die sind billig, treffen aber eben auch kaum. Zwei hochpräzise Geschosse des Gegners richten deutlich mehr Schaden an.»

Ukrainer konnten im Donbass schon üben

Die letzten Jahre hätten den Ukrainern zudem in die Hände gespielt. «Die Ukrainer bilden ihre Armee seit acht Jahren aktiv aus. Sie haben praktisch ihre gesamte Infanterie durch den Donbass ‹gejagt› und ihre Artillerie aktiv eingesetzt. Wir haben unsere Artillerie nur in sehr begrenztem Umfang eingesetzt, meist in Syrien oder bei Übungen, während sie sie in einer Kampfsituation eingesetzt haben. Daher sind ihre Artilleristen auch erfahrener.»

Puchow fasst zusammen: «Im Falle eines Artillerieduells ist es wahrscheinlicher, dass sie uns besiegen. Generell hat der Einsatz von kleinen Drohnen den Einsatz von Artillerie revolutioniert. Wir haben diese Revolution in der Tat verpasst und müssen sie nun nachholen.»

Westen will keine zu grosse Eskalation riskieren

Die Situation habe sich besonders seit der Waffenlieferung aus dem Westen verstärkt. Denn die sowjetischen Waffen, die sowohl Russland als auch die Ukraine zunächst eingesetzt hatten, fliegen bis auf wenige Ausnahmen nicht weiter als 25 Kilometer. «Die moderne westliche Artillerie hat eine grössere Reichweite.»

Die Ukraine beklagt dennoch seit geraumer Zeit, dass die westlichen Waffenlieferungen zu langsam und zu zögerlich seien. Das beobachtet auch Puchow. Dafür gebe es seiner Ansicht nach zwei Gründe: Erstens wolle der Westen nicht das gesamte Arsenal an die Ukraine verpulvern und am Schluss selbst zu wenig zu haben.

Und zweitens müssten zusammen mit den Waffen auch mehr eigene Kräfte in die Ukraine reisen, um die dortigen Soldaten auszubilden. «Zu einer solchen Beteiligung und einer solchen Eskalation ist der Westen nicht bereit, abgesehen von einzelnen eingefleischten Russophobikern, wie den Polen.»

«Wir werden sie nicht mit Atomwaffen angreifen»

Von der Waffenhilfe abgesehen, hätten die Ukrainer sehr schnell gelernt und bewiesen, «dass sie sehr talentierte Krieger» seien, stellt Puchow fest. «Die Unterschätzung des Feindes hat uns in der Tat einen bösen Streich gespielt», räumt er ein. Und er wagt eine Prognose. «Bis zum Ende des Sommers könnte sich die Situation an den Fronten dramatisch zuspitzen.»

Ausserdem sei in Russland nach wie vor keine Mobilisierung ausgerufen worden, während die Ukrainer bereits die vierte Mobilisierungswelle hinter sich hätten. «Irgendwann kann es zu einer Pattsituation kommen, wie im Koreakrieg ab 1951. Und unsere Armee wird einfach stehenbleiben und nicht weiter vorrücken können.»

Das schlimmste Szenario schliesst er aber aus. «Wir werden sie ja nicht mit Atomwaffen angreifen.» (man)

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