Kremlchef Wladimir Putin (70) ernannte Generalstabschef Waleri Gerassimow (67) am Mittwoch zum neuen Kommandeur der russischen Streitkräfte. Sein Vorgänger Sergei Surowikin (56) wurde degradiert und ist nun einer von drei Stellvertretern Gerassimows.
Für westliche Experten und ukrainische Offizielle steht fest: Hinter dem Machtwechsel steckt keine gewöhnliche Personal-Rochade. Vielmehr tobt innerhalb der russischen Militärführung ein gnadenloser Machtkampf.
Seit seiner Beförderung im Oktober gewann Surowikin rasch an Einfluss. Er avancierte zum Liebling der Propaganda-Medien und tauschte sich mit Putin persönlich aus. Das dürfte Gerassimow und Verteidigungsminister Sergei Schoigu (67) nicht gepasst haben.
Bei Wagner-Chef hoch im Kurs
Schnell hinzu kamen aber auch Misserfolge auf dem Schlachtfeld. Surowikin verantwortete den Rückzug aus der strategisch wichtigen Stadt Cherson und den vernichtenden ukrainischen Raketenschlag in Makijiwka, bei dem 89 russische Soldaten ums Leben kamen. Jetzt musste er den Posten als alleiniger Oberbefehlshaber räumen.
Der Hardliner Surowikin stand bei Wagner-Boss Jewgeni Prigoschin (61) hoch im Kurs. Immer wieder schoss der Chef der berüchtigten Söldner-Gruppe verbal in Richtung Verteidigungsministerium. Für Surowikin fand der zwielichtige Geschäftsmann dagegen stets lobende Worte.
ISW: «Interner Machtkampf» in Russlands Militär-Führung
Rob Lee von der US-amerikanischen Denkfabrik Foreign Policy Research Institute (FPRI) vermutet daher ein politisches Motiv hinter Surowikins Degradierung. «Ich glaube nicht, dass dies daran liegt, dass Surowikin als Versager angesehen wird», twitterte er.
«Es dürften politische Gründe gewesen sein. Prigoschin hat sich immer für Surowikin ausgesprochen. Dies könnte nun die Antwort auf den wachsenden Einfluss der Wagner-Gruppe sein.» Die jüngsten Erfolge Russlands in der Ukraine gehen vor allem auf das Konto von Wagner-Chef Prigoschin und seinen Söldnern.
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Das Thema Machtkampf nehmen auch die Experten der US-Denkfabrik «Institute for the Study of War (ISW)» auf. «Die Bevorzugung Gerassimows und des russischen Verteidigungsministeriums gegenüber Surowikin, einem Günstling Prigoschins, war eine politische Entscheidung, um die Vorrangstellung des russischen Verteidigungsministeriums in einem internen russischen Machtkampf zu bekräftigen», heisst es im ISW-Lagebericht von Mittwoch.
Mit dem Führungswechsel wolle der Kreml nicht nur die «russische Befehls- und Kontrollstruktur für eine entscheidende militärische Anstrengung im Jahr 2023» verbessern, sondern auch die Position des Verteidigungsministeriums gegenüber Prigoschin und den zunehmend kritischen Militärbloggern stärken.
«Nur eine Frage der Zeit, bis sie anfangen, zu streiten»
Nicht nur in der Führung rumort es, auch auf dem Schlachtfeld könnten interne Konflikte entstehen. Oleksii Danilow (60), Sekretär des Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, ist überzeugt, dass es in der Ukraine zu einem Machtkampf zwischen «dreieinhalb Armeen» kommen wird. Die Soldaten des Verteidigungsministeriums stehen in Konkurrenz zu den Kämpfern von Wagner-Chef Prigoschin und Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow (46).
Kadyrow und Prigoschin haben das Verteidigungsministerium in der Vergangenheit immer wieder für militärische Fehlschläge kritisiert. Umgekehrt habe in der russischen Armee niemand Respekt für Prigoschin, erklärte Danilow.
Ausserdem stelle die russischen Strafverfolgungsbehörden ihre eigene Armee auf – welche Truppen er damit meint, wird aus der Analyse nicht deutlich. Der Schluss des ukrainischen Offiziellen hingegen ist sonnenklar: «Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie anfangen, untereinander zu streiten.»