Offiziell bekennt sich die Ukraine nicht zu der Sabotage der für Russland so wichtigen Krim-Brücke. Doch Kiew dementiert auch nicht, und die «Washington Post» will direkt in Kiew erfahren haben, dass «ukrainische Spezialeinheiten hinter dem Anschlag auf die Brücke stecken».
Russische Nationalisten und Propagandisten kochen vor Wut. Sie haben keine Zweifel, wer hinter den Explosionen steckt, die Moskaus wohl wichtigste Nachschublinie im Krieg drangsalieren. Nach vielen Rückschlägen an der Kriegsfront steht Kriegspräsident Wladimir Putin (69) immer mehr unter Druck – und Zugzwang. Propagandisten fordern Rache für die Schmach.
Allen voran Wladimir Solowjow (58), Kriegstreiber im Staats-TV Rossija 1. Auf Telegram verflucht Solowjow die «Terroristen» hinter dem Angriff auf die Brücke. «Es ist Zeit, zu antworten. Mit allen Mitteln.» Das ganze Land soll zerstört werden: «Die Ukraine muss in dunkle Zeiten versinken. Brücken, Dämme, Schienen, Kraftwerke und weitere Infrastrukturanlagen (...) in Kiew, Lwiw und anderen Orten des Landes soll auch kein Verwaltungsgebäude mehr stehen.» Der Vizesprecher der russischen Staatsduma, Pjotr Tolstoi (53), fordert, «die Ukraine zurück ins 18. Jahrhundert zu hämmern». Ein russischer Gegenschlag solle «so hart wie möglich» sein, schrieb Tolstoi auf Telegram.
Neue Phase im Krieg?
Bislang verlief der bald achtmonatige Krieg vorab als Frontenkrieg mit Vorstössen und Rückzügen auf beiden Seiten. Ein paar russische Raketen hatten das Ziel Kiew, ein paar ukrainische Angriffe trafen russisches Grenzland. Jetzt ändert sich das Gesicht des Krieges. Erst das Bombenattentat auf die russische Nationalistin Darja Dugina (†29) in Moskau. Dann die mutmassliche Nord-Stream-Sabotage. Jetzt die wahrscheinlich durch eine Bombe zerstörte Krim-Brücke, die mit dem russischen Festland verbindet. Ein asymmetrischer Krieg zeichnet sich ab, in dem auch Sabotageakte, Attentate und Angriffe auf Ziele ausgeübt werden, die nicht direkt im Kriegsgebiet liegen.
Moskau hatte immer wieder damit gedroht, bei anhaltenden Angriffen auf russische Schlüsselanlagen auch Kiew ins Visier zu nehmen. Polit-Experte Erich Gysling (86) geht davon aus, dass die Russen nach der Zerstörung der wichtigen Krim-Brücke «jetzt versuchen werden, Kiew anzugreifen». Derweil überwerfen sich nationalistische Russen auf sozialen Medien mit Drohungen, bislang verschonte ukrainische Ziele anzugreifen.
Putin mit dem Rücken zur Wand
Der Putinist Valery Chernitsow, Abgeordneter in Sewastopol, der grössten Stadt der Krim, droht den Ukrainern offen mit Rache für die Explosion auf der Krim-Brücke. Russland, so behauptet Chernitsow in einem Video, werde grosse ukrainische Städte angreifen. Er warnt Ukrainer, «auf sich selbst aufzupassen» und rechtzeitig aus ihren Städten zu fliehen.
«Rybar», eine einflussreiche Militärblogger-Gruppe, fordert auf Telegram «die Zerstörung der Transportversorgungszentren der Streitkräfte der Ukraine». Nicht nur das. Der Winter steht an, die Ukraine soll leiden. «Uns hindert nichts daran», so «Rybar», «nach dem Angriff auf die Krim-Brücke die Energieinfrastruktur anzugreifen.» Konkret: Das «Energiesystem des Landes ausschalten.»
Putin steht mit dem Rücken zur Wand. Antwortet er nicht auf den Angriff, verliert er nicht nur bei Hardliner-Kriegshetzern wie Solowjow, Chernitsow und Co. sein Gesicht. Sein ganzes Land sieht immer deutlicher: Der Kriegsherr versagt.
Achillessehne Moskaus
Die Brücke hat nicht nur eine wichtige symbolische Bedeutung für Russland, sondern vor allem auch eine strategische. Die Strassenbrücke war 2018 persönlich von Putin eröffnete worden, die Eisenbahnbrücke 2019. Mit der Beschädigung wurde jetzt die wichtigste Nachschublinie für die in der Südukraine kämpfenden russischen Truppen zunichtegemacht. Dies, während der Kreml bereits seit Wochen mit anhaltenden Verlusten auf dem Schlachtfeld und wachsender Kritik am Krieg im eigenen Land zu kämpfen hat.
Immerhin: Ganz gelang der mutmassliche Anschlag auf die Brücke nicht. «Im Westen freut man sich zu früh», titelte die «Prawda». «Die Krim-Brücke hat überlebt.» Züge können seit Samstagnachmittag die über die Strasse von Kertsch verlaufende Brücke weiterhin passieren. Auf der unbeschädigten Seite der Brücke verkehren auch wieder Autos, wie Sergei Aksjonow (49) auf Telegram schrieb, der von Moskau eingesetzte Verwaltungschef auf der Krim. Damit dürften wenigstens Notlieferungen an Treibstoff, Ausrüstung und Munition weiter zu den russischen Einheiten in den Regionen Cherson und Saporischschja gelangen, zwei der vier ukrainischen Provinzen, die Putin am 30. September annektierte.
Für Lastwagen bleibt das 19 Kilometer lange Bauwerk vorerst weiter gesperrt. Die Versorgung der Krim und russischer Truppen wird eingeschränkt bleiben. Das Prestigeobjekt Putins über die Strasse von Kertsch wird zur Achillessehne Russlands im Krieg. Und gegen die nach Kriegsbeginn von der Ukraine eroberte «Landbrücke» rücken wieder ukrainische Truppen vor. (kes)