Hüten wir uns vor zu viel Optimismus: Die Tyranneien der Welt erleben noch lange nicht ihr Ende, im Gegenteil – sie sind während der letzten Jahre sogar erstarkt.
Doch die totalitäre Achse Moskau-Teheran-Peking wird gerade mächtig durchgeschüttelt. Militärische Rückschläge in der Ukraine blamieren Kremlchef Wladimir Putin, die stotternde chinesische Wirtschaft bringt Staatspräsident Xi Jinping in Erklärungsnot. Und im Iran protestieren die Massen nicht gegen Amerika und Israel, wie es ihnen die Ayatollahs seit Jahren einzutrichtern versuchen, nein – sie skandieren «Tod dem Diktator!».
Im Gegensatz zu den Themen Russland und China allerdings fristet die feministische Revolte gegen die Mullahs in deutschsprachigen Medien ein Nischendasein. Ohne Twitter oder Instagram wäre die Dimension des Aufruhrs und der unfassbar brutalen Gegenwehr der Obrigkeit kaum zu vernehmen.
Auch der Bundesrat zögerte lang – erst am Mittwoch, zwei Wochen nach der Eskalation, zeigt sich das Aussendepartement in einer dürren Stellungnahme «bestürzt» über den gewaltsamen Tod der 22-jährigen Iranerin Mahsa Amini, die festgenommen und misshandelt worden war, weil sie ihr Kopftuch nicht vorschriftsgemäss trug.
Während man von Bern bis Berlin im Flüsterton an die Einhaltung der Menschenrechte erinnert, schuf der kanadische Premier Justin Trudeau Tatsachen und erklärte die Revolutionsgarden zur Terrororganisation. Erstaunlicherweise bewegen sich hierzulande sogar manche Gleichstellungsorganisationen mit angezogener Handbremse; Helvetia schweigt.
Das zaghafte öffentliche Interesse ist erklärbar, Persien scheint geografisch wie kulturell weit weg, und was sind ein paar tote Teenager in einem Land, in dem man ohnehin keine Ferien verbringt, im Vergleich zum drohenden Atomkrieg?
Doch wer wegschaut, verkennt das weltpolitische Ausmass der Ereignisse. Denn das Mullah-Regime ist ein historisches Experiment. Es ist der erste Versuch des politischen Islam, vom Gebetsteppich aus so etwas wie einen modernen Staat zu machen.
Nun wankt die Theokratie nach mehr als vier Jahrzehnten, weil sich die bärtigen Prediger von der Tiktok-Generation bedroht fühlen, weil furchtlose Menschen unter Lebensgefahr aufbegehren und weil den Mullahs keine Antwort einfällt ausser Mord und Totschlag. Das Zeichen, das die mutigen Frauen und Männer in ihrem Kampf für ihre Grundrechte aussenden, übertönt jeden Muezzin-Ruf: Die Ideologie der Fundamentalisten scheitert an der Wirklichkeit und kann sich nur noch mit Terror halten. Die zivilisatorische Fassade der Turbanträger versinkt im Blut der eigenen Bürger.
Das ist ein Fanal für die Fanatiker in den Moscheen: Keine Ideologie hat im neuen Jahrtausend den Westen – und die islamische Welt – mit so viel Verderben überzogen wie der Fundamentalismus. Mit dem moralischen Bankrott der Islamischen Republik Iran kollabiert auch die Vision, dass religiöser Dogmatismus als politisches Programm funktionieren kann.
Gut möglich, dass das Jahr 2022 für die Welt des Islamismus das werden könnte, was die Wende von 1989 für den real existierenden Sozialismus bedeutete. Das gilt auch dann, wenn der Aufstand im Iran niedergeschlagen werden sollte: Die Illusion der Reformierbarkeit ist geplatzt. Mit jeder gemeuchelten jungen Frau gewinnt die Demokratiebewegung eine weitere Märtyrerin, jede Gräueltat der Sittenwächter entlarvt noch deutlicher den faschistoiden Charakter des Systems.
Als Revolutionsführer Khomeini nach der Vertreibung des Schahs 1979 sein Pariser Exil beendete und in Teheran landete, antwortete er auf die Frage des Journalisten Peter Jennings, was er nun fühle: «Nichts.» Nicht auszuschliessen, dass die Epoche des politischen Islam irgendwann wieder dort landet – im Nichts der Weltgeschichte. Wenn nicht dieses Mal, dann vielleicht nächstes oder übernächstes Mal.