Nahost-Experte über einen Angriff Irans auf Israel
«Beide Akteure stehen am Abgrund»

Israel hat die iranischen Revolutionsgarden mit dem Anschlag auf den Hamas-Führer Ismail Hanija in ihrer Hauptstadt gedemütigt. Weil die Iraner nun von ihrem Versagen ablenken wollen, befürchtet Nahost-Experte Reinhard Schulze eine starke militärische Reaktion.
Publiziert: 03.08.2024 um 18:30 Uhr
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Aktualisiert: 03.08.2024 um 22:05 Uhr
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In Beirut im Libanon wird bei einer Kundgebung der Tod von Hamas-Führer Ismail Hanija beklagt.
Foto: IMAGO/NurPhoto
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Lino SchaerenRedaktor

Israel hat im Libanon den ranghöchsten Hisbollah-Kommandeur Fuad Schukr und in Teheran den Hamas-Führer Ismail Hanija getötet – innert weniger Stunden. Mit welcher Reaktion rechnen Sie?
Reinhard Schulze:
Die Stimmung in Nahost zeigt: Es ist ein Kipppunkt erreicht. Die Akteure stehen nun derart nahe am Abgrund, dass sie eigentlich nur zwei Möglichkeiten haben: Entweder sie weichen klar zurück – oder sie springen. Schaut man sich die Sicherheitsmassnahmen an, die derzeit in Israel ergriffen werden, wird mit dem Schlimmsten gerechnet.

Die USA entsenden Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge, Teheran schlägt offenbar alle Vermittlungsversuche aus. Ist die Eskalation überhaupt noch zu stoppen?
Die Entsendung der Schiffe und Flugzeuge soll eine Eskalation verhindern – durch Abschreckung. Die Wirksamkeit dieser Massnahme darf nicht unterschätzt werden. Doch bleiben Zweifel, ob sich Iran und seine Verbündeten abschrecken lassen. Die Verstärkung bedeutet deshalb zunächst einen Zeitgewinn, denn die Iraner werden sich auf diese militärische Lage erst einmal einstellen müssen. Man muss zudem bedenken, dass das iranische Regime – anders als beim letzten Vergeltungsschlag gegen Israel im April – diesmal die Initiative nicht den Revolutionsgarden überlassen, sondern sich der regulären Streitkräfte bedienen dürfte.

Was heisst das?
Die regulären Streitkräfte gelten zwar als nicht so ideologisch durchtrainiert und motiviert wie die Revolutionsgarden, haben aber eine höhere technologische Kampfkraft.

Was würde der Ausbruch eines neuen Krieges in Nahost für die Welt bedeuten?
Es droht nebst dem Krieg in der Ukraine in Nahost ein weiterer Krieg von weltpolitischer Bedeutung. Was dabei teilweise untergeht, ist die Rolle der arabischen Staaten, etwa von Syrien. Sie werden als Zaungäste des Konflikts gesehen. Dabei ist eine militärische Auseinandersetzung kaum vorstellbar, in welche die arabischen Staaten nicht hineingezogen würden. Als Israel im April die iranische Botschaft in Syrien angegriffen hat, reagierten die Revolutionswächter mit Hunderten Drohnen und Raketen, die sie auf Israel abfeuerten. Doch die jetzige Situation hat noch einmal eine neue Qualität. Das macht mir grosse Sorgen.

Was befürchten Sie?
Durch die unbedachte Aktion eines einzelnen Akteurs könnte eine unkontrollierbare Situation entstehen, die in eine Eskalationskaskade führt. Irans Revolutionsführer Ali Chamenei könnte zudem entscheiden, in den Abgrund zu springen in der Hoffnung, dass Iran in einem Krieg gegen Israel weitere Allianzpartner findet. Vielleicht träumt er davon, dass die Türkei dann nicht mehr anders kann, als militärisch aktiv zu werden.

Chamenei soll gemäss Medienberichten bereits einen direkten Angriff auf Israel angeordnet haben.
Das sagt die «New York Times», iranische Quellen haben das noch nicht bestätigt. Klar ist, dass Chamenei unter riesigem Druck steht. Das Image der Revolutionswächter ist auch in Iran selbst stark angeschlagen. Dass in Teheran eine Bombe hochging und einen hochrangigen Gast tötete, erschüttert das Land.

Was bedeutet der Anschlag in Teheran für Revolutionsführer Chamenei?
Es ist eine Demütigung, ein Gesichtsverlust für Iran und eine ungeheure Schmach für die Revolutionsgarden. Sie sind nicht mehr Herr im eigenen Haus. Man muss sich das einmal vorstellen: Israels Armee pflügt seit Monaten den Gazastreifen um und konnte Hamas-Führer Jahia Sinwar, der als Planer der Anschläge vom 7. Oktober gilt, trotzdem nicht finden – aber im Herzen von Teheran gelingt es Israel, den Hamas-Politikchef Hanija in einem durch die iranische Elitetruppe hoch gesicherten Gästehaus gezielt zu töten. Das offenbart massive Schwächen in Teherans Sicherheitsapparat.

Wie wird sich das auf das weitere Geschehen im Nahen Osten auswirken?
Was geschehen ist, hat das Image der Revolutionswächter noch einmal massiv geschädigt. Es besteht deshalb die Gefahr, dass Chamenei versuchen wird, das eigene Versagen mit dem Mittel einer starken militärischen Reaktion zu vertuschen. Man muss wohl mit einer koordinierten Aktion der Hisbollah, der Hamas und dem islamistischen Widerstand im Irak rechnen. Ob sich die Huthi-Rebellen im Jemen einem Angriff auf Israel anschliessen würden, ist offen.

Der getötete Hamas-Führer Hanija galt als Schlüsselfigur für eine Waffenruhe im Gazakrieg. Hat Israel die Verhandlungen darüber bewusst torpediert?
Es gibt auch in Israel Stimmen, welche die Frage aufwerfen, ob Netanyahu mit Ort und Zeitpunkt des Anschlags bewusst eine Eskalation des Irans provozieren wollte. Denn ein schnelles Ende des Gazakriegs würde wohl sein politisches Ende bedeuten. Klar ist: Für die israelischen Geiseln, die sich nach wie vor in der Gewalt der Hamas befinden, ist die Entwicklung katastrophal. Ihre Freilassung ist noch einmal weit unwahrscheinlicher geworden.

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