Mindestens 12 tote Kinder und Jugendliche sowie über 30 Verletzte: Das ist die Bilanz eines verheerenden Raketeneinschlages auf einem Fussballfeld auf den Golanhöhen am Samstag. Für Israel ist es klar, dass die im Libanon stationierte Terrorgruppierung Hisbollah hinter dem Anschlag steckt. Die Hisbollah ihrerseits bestreitet dies.
Israel bezeichnet – angesichts der angeblichen Beweise – die rote Linie als definitiv überschritten. Eine Invasion in den Libanon dürfte kurz bevorstehen. Der israelische Aussenminister Israel Katz (68) sagte gegen die Hisbollah gerichtet: «Wir stehen vor einem umfassenden Krieg.» Und die Hisbollah erwartet laut eigenen Angaben tatsächlich einen «harten Angriff» – einen Angriff, der sich auf die ganze Welt auswirken könnte.
Als erste Vergeltung auf den Anschlag auf das Fussballfeld in der drusischen Ortschaft Madschd al-Schams hat Israels Luftwaffe in der Nacht auf Sonntag Waffenlager sowie weitere Infrastruktur der Hisbollah im Libanon angegriffen.
«Gefahr, dass Situation ausser Kontrolle gerät»
Der renommierte Nahost-Experte Erich Gysling (88) sagt gegenüber Blick, dass die Gefahr eines Flächenbrandes seit Jahren nicht mehr so gross gewesen sei. «Seit Monaten herrscht an der Grenze sozusagen stillschweigend ein gegenseitiges Beschiessen, ohne dass es zu Gegenangriffen in unverhältnismässiger Art und Weise kommt. Jetzt aber besteht die Gefahr, dass die Situation ausser Kontrolle gerät.»
Wie ein «harter Angriff» ablaufen und welche Folgen er haben könnte, beschreibt das Center for Strategic and International Studies in Washington D.C. (CSIS). Die Experten des renommierten Instituts rechnen bei einer Offensive als Erstes mit massiven israelischen Luftschlägen gegen die grenznahen Kommandoposten und Raketenabschussanlagen der Hisbollah. Ziel einer darauffolgenden Bodenoffensive dürfte das weitverzweigte Tunnelnetzwerk der Hisbollah werden.
Die Hisbollah ihrerseits würden genau dieses Tunnelnetzwerk nutzen, um mit Guerillaangriffen die israelische Armee im unwegsamen Gelände im Süden des Libanons zu stoppen. Das CSIS rechnet auch damit, dass die Hisbollah Israels Infrastruktur im ganzen Land mit Langstreckenraketen angreifen würde. Nicht ausgeschlossen seien Angriffe auch auf zivile Ziele.
Hisbollah hat massiv aufgerüstet
Das CSIS schreibt Israel zwar eine «enorme Luftüberlegenheit» zu. Doch es warnt vor der Erfahrung der Hisbollah im Bodenkampf in Syrien. «Die taktischen Fähigkeiten, die Kampferfahrung und der Kampfeswille der Hisbollah machen sie zu einer viel tödlicheren Bedrohung als die Hamas – und sogar als andere regionale Militärs.»
Zudem hat die Hisbollah dank der Unterstützung des Irans in den vergangenen Jahren massiv aufgerüstet. Zusätzlich zu den geschätzten 120'000 bis 200'000 Raketen verfügt die Terrormiliz über unbemannte Flugsysteme wie Quadrokopter, Selbstmorddrohnen sowie Loitering-Munition – Lenkwaffen, die über dem Zielgebiet kreisen und sich dann auf Kommando auf ein kurzfristig eingegebenes Ziel stürzen.
Die UNO fordert eine schnelle Aufklärung des Raketeneinschlags. Denn möglicherweise handelte es sich nicht um einen gezielten Anschlag, sondern um eine fehlgeleitete Rakete, welche die etwas höher gelegene israelische Militärbasis treffen sollte. Auf der Gegenseite spricht man auch von einer fehlgeleiteten Rakete des israelischen Abwehrsystems «Iron Dome».
Nur noch eine Möglichkeit zu stoppen
Schon 1982 und 2006 war es zu Kriegen zwischen Israel und Truppen im Libanon gekommen. Ein neuer Krieg dürfte sich zu einem Flächenbrand entwickeln, in den auch der Iran hereingezogen werden könnte, schätzt Gysling. «Ein solcher Krieg würde vor allem den schon jetzt fragilen Libanon in Gefahr bringen.»
Laut CSIS könnte sich eine Eskalation sogar auf die ganze Welt auswirken. Ein Krieg könnte die Spannungen innerhalb der Bevölkerung im Nahen Osten und darüber hinaus dramatisch erhöhen und zu vermehrten Angriffen von iranisch unterstützten Gruppen auf Israel, die Vereinigten Staaten und kommerzielle Ziele in der Region und den Küstengebieten führen.
Bei einem umfassenden Krieg rechnet das CSIS mit erheblichen Auswirkungen auf Handel, Lieferketten, Energiepreise, Investitionen und Tourismus sowie auch mit grossem menschlichem Leid und hohen humanitären Kosten.
Oren Marmorstein, Sprecher des israelischen Aussenministeriums, warnt, dass es nur eine Möglichkeit gebe, einen für den Libanon «verheerenden Krieg» zu verhindern. Die Hisbollah müsse gezwungen werden, sich gemäss einer UN-Resolution bis hinter den Litani-Fluss zurückzuziehen. Dieser liegt 30 Kilometer von der Grenze zwischen Israel und dem Libanon entfernt. Marmorstein: «Jetzt ist es die allerletzte Minute, dies noch diplomatisch zu tun.»