Auf einen Blick
Jahia Sinwar ist tot. Der politische und militärische Führer der Hamas wurde am Mittwoch im südlichen Gazastreifen bei einem Einsatz von Israels Armee getötet. Der meistgesuchte Terrorist gilt als Drahtzieher des Massakers vom 7. Oktober 2023. Dennoch fiel Sinwar nicht in einer gezielten Militäroperation, sondern in einem begrenzten, zufälligen Gefecht.
Entgegen allen Annahmen hatte er sich nicht in der Deckung von Geiseln in einem Tunnel versteckt, sondern war lediglich mit zwei Kämpfern in der Stadt Rafah unterwegs, als eine israelische Patrouille auf das Trio aufmerksam wurde. Die Soldaten hatten keine Ahnung, dass sie gerade den höchsten Chef der palästinensischen Terrororganisation aufgespürt hatten. Was nichts daran ändert, dass Israel mit Sinwars Tötung ein zentrales Ziel seines Kriegs im Gazastreifen als erreicht betrachten kann.
Hoffnung auf Frieden
Der 61-Jährige war erst Anfang August zum Hamas-Chef aufgestiegen – nach dem tödlichen Anschlag auf Ismail Hanija in Teheran. Zuvor führte er einen Flügel der Miliz im Gazastreifen, eine Funktion, in der Sinwar weder Skrupel noch Kompromissbereitschaft zeigte. Unter seiner Führung wurden kürzlich die Verhandlungen über einen Waffenstillstand gestoppt. Sinwar bestand auf maximalen Forderungen: Im Austausch für die restlichen israelischen Geiseln verlangte er die Freilassung möglichst vieler palästinensischer Gefangener und den vollständigen Abzug von Israels Truppen aus dem Gazastreifen.
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Zugleich suchte Sinwar zu verhindern, dass die Palästinensische Autonomiebehörde oder eine internationale Schutztruppe die Macht im Küstenstreifen übernimmt. Die Hamas sollte die Kontrolle in Gaza behalten – für Israel ein undenkbares Szenario.
Mit dem Tod von Sinwar keimt wieder die Hoffnung auf Verhandlungen auf, die den Krieg beenden könnten. Israels Premierminister Benjamin Netanyahu (74) sprach über einen «Anfang vom Ende» des Gaza-Kriegs. Laut US-Präsident Joe Biden (81) gebe es nun die Chance auf einen «Tag danach», ohne die Hamas an der Macht im Gazastreifen. Sinwar sei dafür ein Hindernis gewesen.
Wer folgt auf Jahia Sinwar?
Die Terrororganisation ist nach einem Jahr Krieg im Gazastreifen stark geschwächt. Gemäss Angaben der USA ist die Hälfte der Milizionäre inzwischen tot. Bereits Ende September meldete Israel, die Hamas sei militärisch besiegt und nur noch zu Guerilla-Aktionen fähig. Im März war bereits die Nummer drei der Hamas im Gazastreifen, Marwan Issa, bei einem Luftangriff getötet worden, im Juli dann Sinwars Stellvertreter Mohammed Deif.
Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze (71) glaubt, dass deshalb ein Waffenstillstand möglich wäre: «Jetzt gibt es die Chance, innezuhalten und der Frage nachzugehen, wie eine politische Lösung aussehen könnte», sagt er. Gefragt sei jetzt «sehr viel Diplomatie». Entscheidend dürfte sein, wer bei der Hamas auf Jahia Sinwar folgt – und ob der unflexible, ideologisch extreme Kurs des getöteten Terrorführers korrigiert wird.
Arabische Quellen und israelische Sicherheitskreise gehen laut Medienberichten davon aus, dass Sinwars Bruder, Mohammed Sinwar, das Kommando im Gazastreifen übernehmen könnte. Schulze sieht es als wahrscheinlicher an, dass die Auslandshamas wieder das Ruder in die Hand nimmt. Nach dem «Iranist» Sinwar ginge die Macht damit wieder an die «Arabisten» über.
Ein «Gemässigter» steht bereit
In der Favoritenrolle sieht der Islamwissenschaftler Chalid Maschal (68), der im türkischen Exil lebt. Maschal leitete bereits von 1996 bis 2017 das Politbüro der Hamas und steht laut Schulze für die «gemässigten» Kräfte in der radikal-islamischen Miliz: «Maschal gilt als jemand, der eher politische Lösungen statt Militanz in den Vordergrund stellt.»
Als möglicher Nachfolger wird auch der stellvertretende Chef des Hamas-Politbüros Khalil al-Hayya (64) gehandelt, der laut Schulze politisch zwischen Maschal und Sinwar einzuordnen ist. Al-Hayya leitete am Freitag eine Delegation der Auslandshamas, die den türkischen Aussenminister Hakan Fidan (56) in Istanbul besuchte. Thema soll die Auslotung von Möglichkeiten für einen Waffenstillstand gewesen sein.
Am gleichen Tag empfing Fidan seinen iranischen Amtskollegen Abbas Araghtschi (61). Schulze glaubt, dass die Türkei das politische Überleben der Hamas als Teil der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) herbeizuführen sucht. «Die Hamas würde damit aus Irans Achse des Widerstands ausbrechen», sagt Schulze.
Während die Terrororganisation nach Sinwars Tötung von Richtungsstreitigkeiten gelähmt scheint, steigt in Israel der Druck auf die Regierung Netanyahu, endlich die etwa 100 verbliebenen Geiseln nach Hause zu bringen. Israelische Quellen sprachen zuletzt allerdings davon, dass nur noch zwei Drittel von ihnen am Leben sind.
Nach der Bestätigung von Sinwars Tod versprach Netanyahu allen Schonung, die jetzt ihre Waffen niederlegten und israelische Geiseln freiliessen. Israels Ministerpräsident sichert ihnen freies Geleit und Exil ausserhalb des Gazastreifens zu – etwa in Katar oder der Türkei. Schulze betrachtet dies als realistischen Ausweg für Kämpfer der Hamas.
Eine Exil-Lösung war bereits Anfang Jahr erörtert worden, damals auch für die Hamas-Anführer um Sinwar und Deif. Es wäre allerdings schwierig gewesen, die israelische Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Verantwortlichen des Massakers vom 7. Oktober ungestraft davonkommen. Nach dem Tod der Hamas-Führung stünden die Chancen jetzt deutlich besser, sagt Schulze.
Für diese Diskussion gibt es ein historisches Vorbild: Als Israel 1982 in den Libanon einmarschierte, um die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO= zu zerschlagen, konnte der Krieg mit dem Abzug von deren Führung um Jassir Arafat (1929–2004) nach Tunesien beendet werden.
Nicht alle Geiseln in Hamas-Gewalt
Schulze hält aber auch eine Warnung bereit: Das Machtvakuum an der Hamas-Spitze könnte die Aussichten für die israelischen Geiseln im Gazastreifen auch verschlechtern. Wahrscheinlich befänden sich nicht alle Geiseln in der Gewalt der Hamas, sondern auch in Händen anderer krimineller Organisationen, etwa des Palästinensischen Islamischen Dschihads. Der Islamwissenschaftler zu Blick: «Die haben je nach Kurs der neuen Hamas-Führung allenfalls eigene Interessen.»