In den vergangenen Monaten hat die Nato die Ukraine mit schweren Waffen beliefert, zudem haben die Ukrainer Teile der russischen Infrastruktur wie Tanklager angegriffen und zerstört. Ziel: Vorbereitung für eine grosse Offensive gegen die russischen Eindringlinge.
Die Vorbereitungen für den grossen Gegenschlag lagen Ende April gemäss Nato in den letzten Zügen. Jewgeni Prigoschin (61), Chef der russischen Wagner-Söldnertruppe, rechnete damals mit einem Angriff der Ukrainer bis Mitte Mai. Abgesehen vom üblichen Kriegsgeschehen ist der grosse Gegenangriff aber bisher ausgeblieben.
Erfolgreiche Geheimhaltung
Wann eröffnen die Ukrainer ihr «Feuerwerk für die Russen», wie sie die Gegenoffensive nennen?
«Da der weitere Kriegsverlauf vom Ausgang dieser Offensive abhängt, hat sie Kiew nicht überstürzt lanciert», meint Marcel Berni (34), Strategieexperte an der ETH-Militärakademie. Die Ukraine lasse sich Zeit, bis die Böden ausgetrocknet und die eigenen Truppen an den neuen, westlichen Waffen ausgebildet seien.
Aus ukrainischer Sicht mache es Sinn, widersprüchliche Informationen zur Offensive zu verbreiten und so die Erwartungshaltung zu dämpfen. Berni: «Kiew hat es bisher erfolgreich geschafft, seine Absichten und Vorbereitungen geheim zu halten.»
Richtigen Zeitpunkt abwarten
Für Berni kommen drei Offensiv-Möglichkeiten – separat oder auch in Kombination – infrage:
ein direkter Stoss von Saporischschja in Richtung Melitopol und Krim, um die Landbrücke zwischen der Krim und dem Donbass zu trennen
ein Angriff im Donbass
ein Aufrollen der Front von Cherson aus
Es gehe nun darum, den richtigen Zeitpunkt für die Offensive abzuwarten. «Die Ukraine muss versuchen, dass sich die russischen Truppen überdehnen, um sie dann an einem schwachen Punkt zu überraschen», sagt Berni. Und er ist überzeugt: «In den kommenden Wochen werden wir wahrscheinlich noch mehr Verwirrung, Überraschungsangriffe sowie Täuschungsoperationen sehen.»