Mehr tote Kinder als gerettete Erwachsene
Nicht für alle Länder ist der Corona-Lockdown sinnvoll

Was in Europa funktioniert, muss nicht automatisch auch in Afrika klappen: Die Rede ist von den Folgen des Corona-Lockdowns. In den ärmsten Ländern der Welt führt die Rezession zu einer höheren Kindersterblichkeit. Das belegen wissenschaftliche Untersuchungen.
Publiziert: 27.07.2021 um 15:39 Uhr
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Der Kampf gegen das Coronavirus in armen Ländern in Afrika sollte nicht gleich ausgetragen werden wie in Europa.
Foto: AFP

Die Corona-Pandemie beschäftigt seit rund anderthalb Jahren die Welt. Die Regierungen auf allen Kontinenten kämpfen mit zahlreichen Mitteln gegen das Virus. Maskenpflicht, Abstandsregeln, Home-Office und Lockdown. Dabei ist Letzteres nicht für alle Gesellschaften ein geeignetes Modell. So sieht es zumindest die Forschergruppe rund um Lin Ma (37).

Der Wirtschaftswissenschaftler lehrt an der Management-Universität in Singapur. Zusammen mit fünf weiteren Wissenschaftlern der Forschungsgruppe der Weltbank und der University of Michigan untersuchte er die Auswirkungen der Pandemiebekämpfung auf die Sterblichkeit.

Das zentrale Ergebnis der Forschungsarbeit lautet: Ein Lockdown nach europäischem Vorbild führt in den ärmsten Ländern dieser Welt zu einer höheren Kindersterblichkeit. Pro gerettetem Erwachsenen würden aufgrund der darauffolgenden Rezession 1,7 Kinder sterben.

Wer keine Ausgleichsmittel hat, riskiert Hunger

In einem Interview mit dem «Spiegel» erklärt Lin Ma die Zusammenhänge.

Während des Lockdowns werden viele Leben gerettet, vor allem diejenigen der älteren Bevölkerung. Gleichzeitig sind wirtschaftliche Folgen unumgänglich, da das Arbeitsleben pausiert wird. Mit dem abnehmenden Bruttoinlandsprodukt sinkt dann auch das Einkommen pro Haushalt.

Wer nicht genug Ersparnisse hat und von der Regierung, die ebenfalls wenig Mittel hat, nicht unterstützt wird, riskiert Mangelernährung und Hunger. Auch der Zugang zur medizinischen Versorgung kann erschwert werden.

Das Leben der jüngsten Generation und somit die Sterblichkeitsrate von Kindern, insbesondere Kleinkindern unter zwei Jahren, hängt aber stark von der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Das zeigen Daten aus der Vergangenheit.

Die Wissenschaftler haben nun ein Modell erstellt, um diese Art Tausch bei der Sterblichkeit zwischen den Generationen zu quantifizieren.

Europa hat genug Ressourcen, um Kindersterblichkeit zu verhindern

Für die USA und Europa heisst das: Ein Lockdown, der im Schnitt sieben Wochen dauert und die ökonomische Aktivität um 38 Prozent verringert, führt nicht zu einer höheren Kindersterblichkeit. «Diese Staaten haben genug Ressourcen, um das zu verhindern», sagt Ma. Auch Länder wie China oder Brasilien sind reich genug. «In Brasilien kämen nach unserem Modell auf 100 gerettete erwachsene Menschen drei Kinder, die ihr Leben verlieren würden», erklärt Lin Ma.

Für afrikanische Länder, besonders in der Subsahara, sieht die Lage anders aus. Dort liegt die Rate bei über 100 Prozent. Das bedeutet, dass mehr Kinder an den ökonomischen Auswirkungen eines Lockdowns sterben würden, als Erwachsene gerettet werden können.

Gemäss den Berechnungen lag die Rate in Tansania, Uganda, dem Niger, Burkina Faso, Malawi und Burundi bei mehr als 1,7. Auf 100 gerettete Erwachsene kommen demnach 170 tote Kinder. In Ruanda lag die Rate bei 1,39 und in Zimbabwe bei 1,58. In den ärmsten Ländern der Welt würde die Sterblichkeit also insgesamt steigen, was wiederum den Sinn und Zweck des Lockdowns verfehlen würde.

«Vulnerabel gegenüber Wirtschaftskrise»

«Wir wollten zeigen, dass es nicht für alle Länder sinnvoll ist, einfach die Politik Europas oder der USA zu kopieren. Für Entwicklungsländer sind Lockdowns eher keine gute Idee», resümiert der Wissenschaftler.

Zumal sich auch die Demografie der reichen Länder von derjenigen in Afrika unterscheidet. Dort sei nur ein kleiner Teil der Bevölkerung älter als 65 Jahre und somit eine besondere Risikogruppe gegenüber dem Virus. «Stattdessen gibt es sehr viele junge Menschen unter 15 Jahren und Kinder unter fünf Jahren. Sie sind wenig gefährdet durch das Virus, aber sehr vulnerabel gegenüber den Risiken einer Wirtschaftskrise.»

«Wir stellen fest, dass in einkommensschwachen Ländern ein Lockdown potenziell zu 1,76 verlorenen Kinderleben aufgrund des wirtschaftlichen Abschwungs pro verhindertem Covid-Todesfall führen kann. In Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen liegt dieses Verhältnis bei 0,59 und in Ländern mit hohem bis mittlerem Einkommen bei 0,06.»

Man Li betont deshalb: Nach dem Massstab der Sterblichkeit sind Lockdowns in den reicheren Ländern sinnvoll. (man)

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