Verlagert sich der Ukraine-Krieg demnächst in die Luft? Davon gehen zumindest zwei Nato-Militär-Insider aus. Ihnen zufolge soll die russische Armee massiv Kampfjets an der Grenze zur Ukraine zusammenziehen, berichtet die «Financial Times».
Auch der deutsche Militärexperte Ralph Thiele (68) sieht Anzeichen dafür, dass sich Wladimir Putin (70) zum Jahrestag des Krieges tatsächlich auf einen Luftangriff vorbereitet. «Bei Flugzeugen ist es nicht üblich, dass sie an der Grenze zusammengezogen werden. Solange das nicht nur eine Drohgebärde ist, deutet das darauf hin, dass er die Reichweite der Flugzeuge vergrössern möchte», sagt Thiele zu Blick.
Womit müssten die Ukrainer rechnen, wenn Putin aus der Luft angreift? Laut Thiele sei das im Vorfeld schwierig abzuschätzen, da es darauf ankomme, welche konkreten Absichten der russische Präsident mit der Offensive verfolge. Will er die Front durchbrechen oder weiterhin vor allem den Verteidigungswillen der Ukrainer schwächen? Thiele erklärt: «Gilt die strategische Zielsetzung dem Frontdurchbruch, muss man mit einem massiven Angriff von Jagdbombern rechnen, die auch Abstandswaffen zum Einsatz bringen.»
Würde dagegen kritische Infrastruktur attackiert werden, würde sich mit dem Einsatz von Flugzeugen gegebenenfalls «eine Raketen-Durststrecke überwinden, bis wieder genug im Bestand sind. Denn die müssen jetzt erst einmal nachproduziert werden».
Ein Jahr Vorbereitungszeit
Hat Putin nach so langer Zeit überhaupt noch genügend Jets? Davon ist Thiele überzeugt: «Da die russischen Jets bisher wenige Einsätze flogen, dürften der Bestand und das Waffenspektrum gross sein, darunter gibts auch genügend Hightech-Flieger.» Zu Russlands Arsenal der modernsten Kampfflugzeuge der Welt gehören auch die Suchoi Su-57. Bisher kamen die im Ukraine-Krieg nicht zum Einsatz. Laut dem britischen Verteidigungsministerium hat der Kreml Angst davor, dass das millionenschwere Kampfflugzeug abgeschossen werden könnte.
Thiele sieht das anders. «Das hat nichts mit der Angst zu tun. Vermutlich war das Verhältnis Risiken-Nutzen zu hoch.» Auch was das Können seiner Piloten angeht, könnte Putin trumpfen. «Die Lufttruppen, die bisher vor allem ‹Flugshows› geflogen sind, hatten ein Jahr Zeit, um sich besser vorzubereiten.» Der Militärexperte betont, dass die Eskalationsdominanz bei Putin liege. «Egal, was der Westen macht, er kann immer einen draufsetzen. Su-57 ist auch nicht Putins letztes Ass im Ärmel, sondern nur eins von vielen.»
«Könnte ein Wendepunkt sein»
Die Insider aus dem Bericht der «Financial Times» warnen davor, dass die Ukrainer «möglichst viele Luftabwehrsysteme und Munition» brauchen würden, wenn sie den Angriff überstehen wollen.
Und genau an dieser Munition und Ersatzteilen fehlt es derzeit Wolodimir Selenskis (45) Truppen, sagt Thiele. Das ist wohl auch der Grund, warum Putin sich dazu entscheiden könnte, die Ukraine jetzt aus der Luft anzugreifen. «Es ist nicht als ein Akt der Verzweiflung zu werten, vielmehr möchte er die gegenwärtig schwache Phase der Ukrainer ausnutzen. Denn es stellt sich die Frage, wie viele Luftabwehr-Raketen die Ukrainer überhaupt noch haben», sagt Thiele. Für den Militärexperten ist deshalb klar: «Wenn Putin seinen Angriff professionell durchführt, haben die Ukrainer aufgrund der Masse der Flugzeuge keine Chance.»
Doch auch das sehen andere Experten nicht so. Angesichts der Tatsache, dass die russische Luftwaffe die zahlenmässig unterlegene Ukraine-Luftwaffe auch noch nach einem Jahr nicht vom Himmel vertrieben hat, zweifeln US-Experten an der Fähigkeit der russischen Flieger, komplexe Operationen durchzuführen. Zudem sind vom neusten Kampfjet Su-57 laut dem Fachmagazin «Flugrevue» erst eine Handvoll an die russische Luftwaffe ausgeliefert worden.
Trotzdem: Gelinge Putin als Folge der Durchbruch an der Front, könnte das ein Wendepunkt im Krieg sein, glaubt Thiele. «Die Ukrainer müssen sich dann überlegen, wie viel ihrer Selbstständigkeit sie behalten wollen. Wenn sie es dagegen schaffen, standzuhalten, können sie Zeit für bessere Verhandlungspositionen gewinnen.»