Der Kreml hatte einen Blitzsieg im Sinn, als er vor einem Jahr die Ukraine angriff. Zwölf Monate später herrscht ein Patt zwischen Kiew und Moskau. Keine Seite ist der militärische Sieger, und weder Moskau noch Kiew sind bereit, auf der Grundlage des Status quo zu verhandeln.
«Es gibt keine Anzeichen für ein baldiges Ende», sagt Jon Alterman von der US-Denkfabrik Center for Strategic and International Studies. «Jede Seite denkt, dass die Zeit auf ihrer Seite ist und dass es ein Fehler wäre, sich jetzt zu einigen.» Beobachter befürchten, dass der Krieg im zweiten Jahr noch heftiger werden könnte, und rechnen mit einer russischen Frühjahrsoffensive.
Die Ukraine scheint jedoch entschlossen zu sein, verlorene Gebiete zurückzuerobern, wobei der Westen sie immer stärker mit Waffen unterstützt. Kiew will auch die bereits 2014 von Moskau annektierte Halbinsel Krim wieder unter seine Kontrolle bringen – ein Vorhaben, das im Westen auf Skepsis stösst. Der französische Präsident Emmanuel Macron (45) sicherte dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (45) kürzlich in Paris zu, er sei «entschlossen, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen».
Szenario 1: Die Ukraine siegt – teilweise
Das bedeute aber nicht, dass der Krieg zwangsläufig mit einer klaren russischen Niederlage enden müsse, sagte Liana Fix vom US-Thinktank Council on Foreign Relations. «Ich denke, das wahrscheinlichste Szenario sind ukrainische Gewinne, die zu einem ausreichenden Sieg führen», sagt sie. Russland könnte zwar eine grosse Zahl neuer Soldaten mobilisieren, doch müssten diese ausgebildet, ausgerüstet und verpflegt werden – Aufgaben, bei denen die russische Armee «in diesem Krieg bisher wirklich schlecht war».
Dimitri Minic von der französischen Denkfabrik Ifri hält die Art der Waffen, welche die Ukraine von ihren westlichen Verbündeten erhält, für kriegsentscheidend. Artillerie mit grösserer Reichweite zum Beispiel «könnte es der ukrainischen Armee ermöglichen, den Zyklus von Angriff, Gegenangriff und Verteidigung zu durchbrechen und einen entscheidenden Sieg zu erringen», sagt er.
Er verweist aber auch auf die Entschlossenheit des Kremls: «Die Russen sind bereit, alles zu tun, um die besetzten Gebiete zu halten und ihre Eroberungen fortzusetzen, einschliesslich einer unbegrenzten Mobilisierung und der Verarmung ihres gesamten Landes, wenn es sein muss.»
Szenario 2: Machtwechsel in Russland
US-Experte Alterman könnte sich auch «einen Führungswechsel in Russland vorstellen, der den Krieg beendet». Oder eine Art Waffenstillstand. «Aber es ist noch zu früh, um das zu sagen», sagt Alterman. Bislang hat keine der beiden Seiten echte Verhandlungsbereitschaft signalisiert.
Selenski hat einen Zehn-Punkte-Friedensplan vorgelegt, der die Anerkennung der territorialen Integrität der Ukraine durch Russland und den Abzug aller russischen Truppen vorsieht. Nach Einschätzung Minics könnte Russland zeitweilig die Unabhängigkeit der Ukraine und sogar eine proeuropäische und Nato-nahe Führung in Kiew akzeptieren, aber nur «im Austausch für die Anerkennung der russischen Eroberungen in der Ukraine». Dazu werde die Ukraine jedoch auf keinen Fall bereit sein, sind sich die Experten einig.
Szenario 3: Einsatz von Atomwaffen
Politologin Fix beschäftigt auch die Frage, ob Russland im weiteren Verlauf des Krieges Atomwaffen einsetzen wird. Die anfänglichen Drohungen Moskaus mit einem Nuklearschlag hätten sich als «Bluff» erwiesen, sagt sie. Sollte es der Ukraine gelingen, die Krim zurückzuerobern, könnte ein nukleares Szenario jedoch zu einer «sehr ernsten Möglichkeit» werden, vermutet Minic.
Käme es so weit, könnten die internen Auseinandersetzungen in Russland aus Angst vor einem Atomkrieg eskalieren. Jeder Einsatz von Atomwaffen würde als Beweis für die Schwäche von Präsident Wladimir Putin (70) gewertet, sagt er.
Szenario 4: Machtwechsel im Westen
Auch Wahlereignisse könnten einen grossen Einfluss auf die Entwicklung des Krieges haben – vor allem die Parlamentswahl in der Ukraine im Oktober und die Präsidentschaftswahl in den USA 2024. Für dieses Jahr ist die Unterstützung Washingtons gesichert, aber die Zustimmung des Kongresses zu einem neuen Hilfsprogramm für die Ukraine sei keineswegs garantiert, sagt Fix.
Einige Regierungen in Europa könnten ebenfalls mit politischer Opposition gegen den Krieg konfrontiert werden, je länger dieser dauert. Auch deshalb «müssen wir 2023 einige bedeutende Vorstösse und Siege der Ukraine sehen», sagt die Politologin. (AFP)