Kiew wirft Moskau Verschleppungen vor
Aus dem Kinderheim in Luhansk in eine sibirische Pflegefamilie

Über 16'000 Kinder sollen aus der Ukraine nach Russland verschleppt worden sein. Die ukrainische Seite spricht von Kriegsverbrechen. Eine sibirische Pflegefamilie, die Kinder aus Luhansk aufgenommen hat, will aber nichts von «gestohlenen Kindern» wissen.
Publiziert: 14.03.2023 um 16:30 Uhr
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Roman Winogradow ist Pfarrer in Sibirien.
Foto: AFP

16 Kinder leben in der Pfarrersfamilie Winogradow im sibirischen Nowosibirsk: vier eigene, sieben russische Pflegekinder und seit Kurzem auch fünf ukrainische. «Die Nationalität ist egal», sagt Jekatarina Winogradowa, sie wolle nur bedürftigen Kindern helfen. Die ukrainische Regierung und Menschenrechtsgruppen sehen das anders: Sie werfen Russland vor, Tausende Kinder verschleppt zu haben.

Um das grosse Haus der Pfarrersfamilie liegt Schnee, die ukrainischen Kinder spielen fröhlich mit dem Schlitten, später helfen sie, das Essen vorzubereiten. Die fünf sind Halbgeschwister, vier Mädchen und ein Junge im Alter zwischen drei und zwölf Jahren.

Die Winogradows sind erfahrene Pflegeeltern. «Das Jugendamt rief an und fragte: ‹Nehmen Sie auch Kinder aus der Ukraine auf?›», erzählt die 38 Jahre alte Mutter. «Wir sagten: Ja. Was macht das schon für einen Unterschied? Kinder sind Kinder – überall.» Vor sechs Monaten wurden die fünf Halbgeschwister aus dem 3000 Kilometer entfernten Moskau in das Pfarrershaus in Sibirien gebracht.

«Die Russen verstecken unsere Kinder»

Die Kinder kämen aus Kinderheimen im ostukrainischen Luhansk, sagen die Pflegeeltern und zeigen von der prorussischen Verwaltung der Stadt ausgestellte Pflegschaftsdokumente. Die Geschwister müssten sich noch daran gewöhnen, jetzt in einer Familie zu leben, sagt der protestantische Pfarrer Roman Winogradow. Sie verlangten immer wieder nach Rückversicherung, dass «das ihr Zuhause ist» und dass sie aus dem Kindergarten tatsächlich wieder abgeholt würden.

Die Kinder erinnerten sich nicht an ihre Mutter in der Ukraine, sagt der 41-Jährige. «Irgendwann werden sie natürlich Fragen stellen», sagt seine Frau. «Dann werden wir nach der Mutter suchen und vielleicht ein Treffen organisieren.»

Nach internationalem Recht darf keine Konfliktpartei Kinder in ein anderes Land evakuieren – ausser aus zwingenden Gründen für Gesundheit und Sicherheit und selbst dann nur vorübergehend. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski sprach vergangene Woche von «Entführung, Zwangsadoption und Umerziehung ukrainischer Kinder durch Russland» und nannte dies «ein Kriegsverbrechen und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit».

Die Ukraine habe Informationen über 16'000 Kinder, die nach Russland gebracht worden seien, sagt die Beauftragte des ukrainischen Präsidenten für Kinderrechte, Daria Gerasymtschuk. Bisher sei es gelungen, 308 Kinder zurückzuholen. Kiew habe 43 Lager mit Kindern in Russland ausgemacht, sagt Gerasymtschuk. «Aber die Kinder werden ständig umgesiedelt. Die Russen verstecken unsere Kinder.»

In einem am Montag veröffentlichten Bericht fordert die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch eine «konzertierte internationale Anstrengung», um zwangsdeportierte Kinder zurückzuholen, und verlangt von Russland, Informationen über den Verbleib der Kinder. Moskau behauptet, Russland nehme nur Flüchtlingskinder aus der Ukraine auf.

Bei den verschleppten Kindern handele es sich keinesfalls nur um Waisen, sagt Gerasymtschuk. Nur 138 der 16'000 Verschleppten stammten aus Heimen. «Die Russen nutzen mindestens fünf verschiedene Szenarien, um Kinder zu deportieren», sagt sie. So würden Kinder etwa bei Kontrollen an der Grenze von ihren Eltern getrennt, oder direkt aus den Familien genommen, um sie angeblich auf Erholung zu schicken. Die Ukraine habe sich bemüht, Kinder in Heimen vor den Besatzern zu verstecken, indem sie in ukrainischen Pflegefamilien untergebracht worden seien, sagt die Kinderrechtsbeauftragte.

Doch das ist nicht immer gelungen – wie im Fall der fünf Halbgeschwister, die jetzt in Sibirien leben. «Ich habe kein Kind gestohlen», sagt ihr russischer Pflegevater. «Und die Kinder glauben auch nicht, dass sie gestohlen wurden.» (AFP)

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