Kiew schiebt Korruption in Rekrutierungszentren den Riegel vor
Ukrainer zahlen bis zu 10'000 Dollar, um nicht in den Krieg ziehen zu müssen

Die Ukraine geht hart gegen korrupte Armee-Rekrutierer vor. Tausende von Männern haben sich dem Kriegsdienst entzogen, indem sie für Ausnahmegenehmigungen bezahlten.
Publiziert: 14.08.2023 um 00:39 Uhr
|
Aktualisiert: 21.08.2023 um 14:44 Uhr
1/7
Die Kriegsnation der Ukraine hat bislang auf eine Generalmobilmachung verzichtet.
Foto: DUKAS
new.jpg
Daniel KestenholzRedaktor Nachtdienst

Was wiegt höher, das eigene Leben oder der Kampf für die Heimat? Nicht nur in Russland versuchen jüngere Männer, mit allen Mitteln dem Zwangskriegsdienst in der Ukraine zu entgehen. Hunderttausende sind ausgereist. Die weit kleinere Ukraine verfügt über einen wesentlich geringeren Nachschub an Männern, die an die Front berufen werden können. Die Chancen, in den Krieg ziehen zu müssen, liegen ungleich höher. Ukrainer zahlen offenbar bis zu 10'000 Dollar, um dem Kriegsdienst zu entgehen. Dem will Kiew jetzt den Riegel vorschieben.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) hat der Korruption im Land längst den Kampf angesagt und feuert immer wieder hochrangige Offizielle und Beamte. Am Freitag entliess er alle Leiter der regionalen Rekrutierungszentren des Landes. Mit diesem Schritt wolle man die Korruption bekämpfen und sicherstellen, dass das Rekrutierungssystem «von Leuten geleitet wird, die genau wissen, was Krieg ist», so Selenski. Mit anderen Worten: Kriegstaugliche Männer sollen sich nicht länger von der Wehrpflicht freikaufen können.

Exodus von Ukrainern

Demnach haben Tausende von ukrainischen Männern hohe Bestechungsgelder gezahlt, um nicht eingezogen zu werden. Als Kiew im Februar 2022 erstmals das Kriegsrecht verhängte, verbot es Männern zwischen 18 und 60 Jahren, das Land zu verlassen. Beliebt war damals der Kauf einer medizinischen Ausnahmegenehmigung, die kriegsuntauglich machte. Kostenpunkt: rund 6000 Dollar, wie die «Financial Times» («FT») am Samstag unter Berufung auf ukrainische Ermittler berichtete.

Offenbar findet auch ein regelrechter Exodus von ukrainischen Männern statt, die versuchen, das Land illegal zu verlassen. Etwa 13'600 seien in der Nähe von Grenzübergängen aufgegriffen und weitere 6100 an Checkpoints mit gefälschten Papieren festgenommen worden.

Untauglich für 10'000 Dollar

Als einer der grössten Profiteure der Bestechungspraxis habe sich der Leiter des regionalen Rekrutierungszentrums in Odessa erwiesen, Jewgen Borissow. Laut «FT»-Recherchen wird der gefeuerte Spitzenbeamte verdächtigt, mehr als 5 Millionen Dollar an Schmiergeldern kassiert zu haben.

Offenbar verlangte er zwischen 2000 und 10'000 Dollar pro Person für verschiedene «Optionen», um dem Wehrdienst zu entgehen. Ukrainische Ermittler wollen wissen, dass Borissow vergangenes Jahr eine Villa in Spanien im Wert von 4,6 Millionen Dollar erworben und Luxusferien auf den Seychellen verbracht habe.

Derweil organisieren sich ukrainische Deserteure im Untergrund. Ein 40-Jähriger wird zitiert, dem Ende Juli die Flucht nach Rumänien gelang. Heute lebt er mit seiner Frau in der Tschechischen Republik und verkauft seine Fluchtroute für 1000 Dollar an Wehrdienstverweigerer. Der Weg sei «schwierig» und «nichts für Untaugliche», so der Fahnenflüchtige. Nach eigenen Angaben erhalte er täglich etwa ein Dutzend Anfragen von Männern und auch Frauen, die nach einem Fluchtweg aus der Ukraine suchen.

Keine Generalmobilmachung

Auch in ukrainischen Städten gibt es offenbar Telegram-Gruppen, die über den Aufenthaltsort von Rekrutierungsbeamten auf Patrouille informieren. In ukrainischen Medien sind immer wieder Videos zu sehen, wie Einberufungsoffiziere junge Männer aus Autos oder auch Nachtclubs zerren. Viele werden als blinde Passagiere in Zügen und Lastwagen aufgegriffen.

Es ist unklar, wie viele ukrainische Leben der Krieg bislang gekostet hat. Kiew versuchte bislang, auf eine Generalmobilmachung zu verzichten. Aber irgendwann könnte der Nachschub an Kampfkräften versiegen. Das Land kämpft gegen einen riesigen Nachbarn mit einer weit grösseren Bevölkerung.

Gezielte Dezimierung der männlichen Bevölkerung

Die Dezimierung der männlichen ukrainischen Bevölkerung ist ein erklärtes Kriegsziel Russlands. Der damals noch aktive Wagner-Söldnerführer Jewgeni Prigoschin (62) erklärte im April, Moskau habe es bereits geschafft, «den grössten Teil der aktiven männlichen Bevölkerung der Ukraine auszurotten und den Rest einzuschüchtern». Die Vernichtung der männlichen ukrainischen Bevölkerung bringe den Sieg über das Land näher.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?