Nach dem Überraschungserfolg der ukrainischen Gegenoffensive im Osten des Landes gewinnt die Debatte um Waffenlieferungen wieder an Fahrt. Es sei zwar zu früh, um von einem Wendepunkt zu reden, aber derzeit liege das Momentum auf der Seite der Ukrainer, sagen Militär- und Sicherheitsexperten. Das gelte es nun zu nutzen. Ein notwendiges Puzzleteil für den militärischen Erfolg bleiben die Waffen, die der Ukraine aus dem Westen geliefert werden.
Dementsprechend werden bei den Erfolgsmeldungen von den ukrainischen Schlachtfeldern die Rufe nach verstärkten Waffenlieferungen noch lauter. Beim Treffen mit der deutschen Aussenministerin Annalena Baerbock (41) macht ihr ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba (41) klar, was die Ukraine nun von ihren Partnern braucht: «Je mehr Waffen wir erhalten, desto schneller gewinnen wir.»
Deutsche Regierung unter Druck
In Deutschland finden derzeit intensive Diskussionen statt. Politikerinnen und Politiker drängen auf Lieferungen von Kampf- und Schützenpanzer. Dies fordert etwa Marie-Agnes Strack-Zimmermann (64), FDP-Politikerin und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. Der Nachrichtenagentur dpa sagte sie: «Deutschland muss umgehend seinen Teil zu den Erfolgen der Ukraine beitragen und geschützte Fahrzeuge, den Schützenpanzer Marder und den Kampfpanzer Leopard 2 liefern.»
Trotz des Drucks zeigt sich die deutsche Landesregierung nach wie vor zaudernd und zurückhaltend: Bundeskanzler Olaf Scholz (64) verweist darauf, dass auch die grossen Nato-Partner keine Panzer direkt liefern. «Es gibt keine deutschen Alleingänge», sagte Scholz am Sonntag.
So konnte Aussenministerin Baerbock bei ihrem Besuch in Kiew am Samstag auch nur beschwichtigen: «Ich weiss, dass die Zeit drängt. Die nächsten Wochen und Monate werden entscheidend sein.» Konkrete Zusagen allerdings gab es keine. Der ukrainische Aussenminister Kuleba gab aber zu verstehen, dass gerade jetzt Kampfpanzer notwendig seien, um weitere Gebiete erfolgreich zurückzuerobern. Kuleba hat Kiews Forderung nach Panzern des Typs Leopard erneuert: «Wir sehen keine Hindernisse dafür.»
Die deutsche Bundesregierung hatte der Ukraine zuletzt Ende August weitere Waffenlieferungen im Wert von mehr als 500 Millionen Euro zugesagt. Unter anderem geht es dabei um drei zusätzliche Luftabwehrsysteme des Typs Iris-T, ein Dutzend Bergepanzer, 20 auf Pick-up-Fahrzeuge montierte Raketenwerfer sowie Antidrohnengeräte und Präzisionsmunition.
Weiteres Paket aus den USA
Die Vereinigten Staaten haben ebenfalls weitere Waffenlieferungen angekündigt: Am Donnerstag hat US-Verteidigungsminister Lloyd Austin (69) der Ukraine weitere Militärhilfe zugesagt. Dabei geht es um ein neues Waffenpaket im Wert von 675 Millionen Dollar. Unter anderem wollen die USA weitere Haubitzen, Raketen, gepanzerte Fahrzeuge und Artilleriemunition liefern.
Gemäss Austin zahlt sich die militärische Unterstützung für die Ukraine aus: «Wir sehen den nachweisbaren Erfolg unserer Bemühungen auf dem Schlachtfeld.»
Ausschlaggebende Waffen
Gegenüber dem «Economist» bezeichneten Stimmen aus dem ukrainischen Militärgeheimdienst vor allem zwei westliche Waffensysteme als besonders nützlich: einerseits die US-amerikanischen Luft-Boden-Rakten des Typs Harm und andererseits die deutschen Gepard-Flugabwehrpanzer. Erstere sollen sich beim Aufspüren und Vernichten von feindlichen Radaranlagen bewährt haben. Den deutschen Flugabwehrpanzern werde attestiert, die russischen Truppen zur Zurückhaltung beim Luftwaffen-Einsatz gezwungen zu haben.
Einen entscheidenden Beitrag haben ebenfalls die Himars-Raketenwerfer aus den USA geleistet. Mit ihnen sprengten die ukrainischen Truppen russische Waffen- und Munitionsdepots sowie Treibstofflager in die Luft, zielten aber auch auf russisch kontrollierte Flugplätze oder Brücken. Wie die «Financial Times» schreibt, seien diese Mehrfachraketenwerfer für die jüngsten Erfolge der Ukraine ausschlaggebend gewesen.
Allerdings betrachtet nicht jeder die Waffenlieferungen als primären Erfolgstreiber. Wie ETH-Strategieexperte Mauro Mantovani (58) Blick erklärte, seien die Täuschungsmanöver der ukrainischen Truppen sowie die Schwäche der russischen Nachrichtendienste entscheidende Faktoren gewesen.
Viel versprochen, knapp die Hälfte angekommen
Gemeinsam mit weiteren Nato-Ländern haben die USA und Deutschland bereits Waffenlieferungen im Wert von über 16 Milliarden Franken angekündigt. Gemäss Daten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft seien aber bislang nur etwa die Hälfte der Waffen geliefert worden.
Woran liegt das? Bei Lieferungen aus den Vereinigten Staaten beispielsweise sollen künftig nicht mehr Material aus dem eigenen Arsenal verschickt werden, sondern bei Rüstungsfirmen eingekauft werden. Das bedeutet: Bis die Waffen tatsächlich ausgeliefert werden, könnten Monate vergehen. Wie die «Financial Times» schreibt, seien generell logistische Schwierigkeiten und die Sorge vor leeren eigenen Arsenalen der Grund für die stockenden Waffenlieferungen der westlichen Partner. (bab/SDA/AFP)