SonntagsBlick: Herr Olmert, vor einer Woche wurde Israel vom Angriff der Hamas komplett überrascht. Wie konnte das passieren?
Ehud Olmert: Ich weiss es nicht. Wir wussten von nichts. In allerletzter Minute, um 2 oder 3 Uhr morgens, gab es wohl schon einige Anzeichen. Die Geheimdienstleute hätten in zwei Stunden genügend Kräfte in den Süden verlegen können, dann hätte alles anders ausgesehen. Aber sie haben es nicht getan.
Weshalb?
Weil sie überrascht wurden. Durch fortwährende Überheblichkeit und völligen Mangel an Respekt gegenüber den Fähigkeiten und der Raffinesse der anderen Seite. Es muss dort ein Masterplan vorgelegen haben, der sehr lang trainiert wurde. In Israel hatte niemand die Möglichkeit erkannt, dass die Hamas überhaupt zu so etwas fähig sein könnte.
Die Geheimdienste waren ignorant?
Eher arrogant. Überheblich und arrogant. Die Hamas-Leute sind primitive Mörder. Aber sie sind raffiniert, entschlossen und auf ihre Ziele fokussiert. Zudem haben sie uns offenbar auf sehr kluge Weise manipuliert und getäuscht.
Wieso schlugen sie gerade jetzt zu?
Ich kann nur auf der Grundlage meiner persönlichen Erfahrungen urteilen. Die Hamas arbeitet als verlängerter Arm des Irans, wie die Hisbollah im Libanon. Beide werden vom Iran finanziert, ausgestattet, trainiert und inspiriert – daran besteht kein Zweifel. Die USA versuchten zuletzt, eine Zusammenarbeit zwischen Israel und Saudi-Arabien zu vermitteln. Dabei war die Normalisierung zwischen Saudis und Israelis nicht einmal oberstes Ziel. Den USA ging es vor allem darum, eine neue Achse gegen den zunehmenden Einfluss Irans, Chinas und Russlands in dieser Region zu etablieren. Ich glaube, das Ziel des Terrorangriffs auf Israel war es, diese Bemühungen zu stoppen.
Die harte Linie von Premierminister Benjamin Netanyahu in der Palästina-Frage spielte demnach keine Rolle?
Nein. Es geht um die Achse Amerika- Saudi-Arabien-Israel. Eine Normalisierung mit Saudi-Arabien würde dazu führen, dass Israel Zugeständnisse an die palästinensische Autonomiebehörde von Mahmud Abbas machen müsste – was wiederum die Stellung der Hamas schwächen würde. Deren Bedeutung war also bedroht. Anders als viele Mitglieder des Kabinetts Netanyahu betrachte ich Abbas und die Autonomiebehörde als potenzielle Partner. Ich stehe mit ihnen in Kontakt und mache auch kein Geheimnis daraus. Die Hamas hingegen ist kein Partner. Sie will keinen Frieden mit Israel. Als ich Ministerpräsident war, konzentrierten wir uns bei der Operation «Gegossenes Blei» Ende 2008 und Anfang 2009 auf die Hamas im Gazastreifen. In den letzten Jahren kam mir manchmal der Gedanke, wir hätten mehr tun können, um sie zu zerschlagen. Leider war ich aufgrund der damals herrschenden politischen Umstände dagegen. Ich glaube, wir haben da einen Fehler gemacht.
Nun schlägt Israel zurück. Gaza ist komplett abgeriegelt und wird intensiv bombardiert. Bodenoperationen haben stattgefunden. Premierminister Benjamin Netanyahu sagt: «Das ist erst der Anfang.» Was erwartet uns?
Ich weiss es nicht. Einige unserer politischen Anführer – selbstverständlich auch Netanyahu – lassen sich von ihrem Zorn und ihren Dämonen leiten. Sie sagen Dinge, die lieber nicht gesagt werden sollten. Deshalb warnt uns die internationale Gemeinschaft bereits zu Beginn der israelischen Aktion, internationales Recht einzuhalten.
Die internationale Solidarität ist gross. Viele Nationen sprechen Israel das Recht auf Selbstverteidigung zu.
Richtig. Aber US-Aussenminister Blinken und US-Verteidigungsminister Austin kamen am Freitag nicht deshalb nach Israel, weil sie das Engagement für uns bekräftigen wollten. Das hat US-Präsident Joe Biden bereits mit seinen öffentlichen Reden und der Entsendung von zwei Flugzeugträgern in den Nahen Osten getan. Der einzige Grund, aus dem die beiden US-Minister nach Israel kamen, war zu sagen: «Wir unterstützen euch, wir stehen zu 100 Prozent hinter euch – aber ihr solltet vorsichtig sein und euch an das Völkerrecht halten.»
Was schliessen Sie daraus?
Dass Israel eine sehr schwierige Wahl zu treffen hat. Wir können uns entscheiden, all diese Warnungen zu ignorieren und mit einer massiven Bodenoperation vorzugehen. Diese Option würde uns grosse Verluste bescheren und auf der anderen Seite erhebliche Kollateralschäden verursachen – wodurch wir die internationale Unterstützung verlieren könnten, die wir derzeit geniessen.
Und die andere Option …
… besteht darin, gezieltere Aktionen durchzuführen, die zwar wirksam sein können, aber für die politische Basis kein Bild des versprochenen Siegs liefern. Das ist ein Dilemma. Die Forderung nach der Evakuierung von einer Million Menschen aus Gaza-Stadt zeigt, in welche Richtung es gehen könnte.
Also eine grosse Bodenoffensive.
Die israelische Armee will offenbar im Zentrum von Gaza operieren. Um aber die Kollateralschäden möglichst gering zu halten, wird die Zivilbevölkerung zum Rückzug aus dem Kampfgebiet aufgefordert. Israel wird sich um die humanitäre Lage im südlichen Teil des Gazastreifens kümmern müssen, damit wir ins Zentrum von Gaza vordringen und alles zerstören können, was irgendwie mit der Hamas in Verbindung steht.
Und dann? Was soll nach der Zerschlagung der Hamas geschehen – vorausgesetzt, sie gelingt?
Für eine bestimmte Zeit sollte eine internationale Streitkraft dafür sorgen, dass die Wiederherstellung einer zivilen, gemässigten Regierung im Gazastreifen möglich wird. Unsere Soldaten müssen nach der Operation wieder abziehen. Es darf keine erneute israelische Besetzung des Gazastreifens geben.
Sie fordern die Stationierung von Blauhelm-Truppen der Vereinten Nationen in Gaza?
Ob Truppen der Vereinten Nationen oder beispielsweise der Nato, weiss ich nicht. Aber ja, etwas in der Art: effektiv und mächtig, damit es dort nicht erneut zur Entstehung einer terroristischen Organisation kommt. Das strategische Ziel dieses Kriegs ist nicht nur die Rache für die schrecklichen Gräueltaten, die uns angetan wurden. Es muss auch unser Ziel sein, das Gleichgewicht innerhalb der palästinensischen Gemeinschaft zu verändern. Dazu gehört, die Stellung der Autonomiebehörde zu stärken, damit sie die Kontrolle über den Gazastreifen übernehmen kann. Damit wir in der Lage sind, Frieden mit Abbas zu schliessen – auf der Grundlage des Plans, den ich 2008 vorgelegt hatte.
Sie glauben nach wie vor, dass eine Zwei-Staaten-Lösung möglich ist?
Ja, allerdings nur, wenn die Dominanz der Hamas gebrochen werden kann. Mein Vorschlag besteht in einer Zwei-Staaten-Lösung auf Grundlage der Grenzen von 1967. Das bedingt einen Gebietsaustausch, bei dem der arabische Teil von Jerusalem die palästinensische Hauptstadt sein wird. Das heilige Becken von Jerusalem wird von einer Art Treuhandfonds verwaltet, bestehend aus fünf Nationen: Palästinensern, Saudi-Arabien, Jordanien, Israel und Amerika. Der freie Zugang für jeden Gläubigen zu jeder heiligen Stätte in der Altstadt von Jerusalem ist gewährleistet. Unser Ziel muss ein solch dramatischer Schritt sein, um die Mittel, die jetzt ergriffen werden, im Nachhinein rechtfertigen zu können!
Die Schweiz als neutraler Staat versteht sich als Vermittlerin. Bern hat in der Vergangenheit mit beiden Seiten verhandelt und seine Kontakte jetzt wieder aktiviert – auch die mit der Hamas. Wie sehen Sie die Rolle der Schweiz?
Wenn die Schweiz glaubt, sie könne sowohl mit Israel als auch mit der Hamas sprechen und dadurch positiven Einfluss nehmen, dann möge Gott ihr helfen – ich bezweifle es. Die Schweiz könnte lediglich bei der Freilassung der gegenwärtig von der Hamas festgehaltenen Geiseln behilflich sein.
Die Schweiz diskutiert über ein Verbot der Hamas. Bis heute ist die Organisation hierzulande nicht als Terrororganisation eingestuft. Wie beurteilen Sie das?
Ich halte es für einen schwerwiegenden Fehler. Die Hamas ist nichts anderes als eine terroristische Organisation.