Bei seinen Rundgängen durch den Gazastreifen fotografierte Mohammed Zaanoun (37) diese Woche vor allem Frauen und Kinder. Tote Frauen und Kinder. «Sie machen die Mehrzahl der Leichen aus, die entlang den kaputtgebombten Strassen in Gaza liegen», erzählt der palästinensische Fotograf im Telefonat mit Blick.
Die israelische Armee hat als Reaktion auf die Anschläge der Hamas mit einer Offensive gegen die Organisation begonnen. Bei mehreren Angriffen der Hamas starben über 1200 Israelis, mehrere Tausend wurden verletzt.
Im Gazastreifen hat unterdessen niemand Zeit für Beerdigungen. Das pure Überleben fordert den 2,3 Millionen Menschen im Küstenstreifen, halb so gross wie der Kanton Glarus, alles ab. «Wir müssen ständig davonrennen. Überall regnen Raketen vom Himmel. Schaut nicht weg, sonst löschen sie uns aus», sagt Zaanoun. Im Hintergrund rauscht die Stimme einer Al-Jazeera-Moderatorin. Zaanoun hört mit einem Ohr mit. Jede Info, jede News hilft, ein kleines bisschen Ordnung ins tödliche Chaos von Gaza zu bringen.
Die Leitung stockt immer wieder. Elektrizität und Internet gibt es nur noch an wenigen Orten im Gazastreifen. Das einzige Kraftwerk wurde am Mittwoch abgeschaltet. Nachts herrscht pechschwarze Dunkelheit. Aber schlafen könne man trotzdem nicht mehr. «Die Angriffe geschehen rund um die Uhr», sagt Zaanoun. Zweimal während des 30-minütigen Gesprächs pausiert er, weil wieder irgendwo etwas explodiert.
Brutales Druckmittel gegen brutale Hamas
950 Menschen wurden diese Woche im Gazastreifen durch Luftschläge bereits getötet, sagt das palästinensische Gesundheitsministerium. «Ich bin mit meinen vier Kindern hierher in die Nähe des grossen Al-Shifa-Spitals geflohen», erzählt Zaanoun. Sein Heimatquartier wurde am Dienstag angegriffen, sein zehnjähriger Sohn am Bein verletzt. «Wir hoffen, Israel verschont die Häuser hier rund ums Spital.» Bombensichere Bunker gibt es in Gaza kaum. Hunderttausende verstecken sich in Schulen und Spitälern.
Sicher aber sei man in Gaza auch in diesen Gebäuden nicht, sagt Zaanoun. «Israels Angriffe treffen nicht nur militärische Ziele, sondern auch Unschuldige. Gerade heute wurden drei Ärzte getroffen, die einem Verwundeten zu Hilfe eilen wollten.» Vielerorts kämen die Rettungsteams wegen der zerstörten Strassen überhaupt nicht mehr zu den Verletzten durch.
Zu den Bomben kommt jetzt auch der Hunger. Israel, das den Gazastreifen seit Jahren hermetisch abriegelt, lässt derzeit weder Wasser noch Nahrungsmittel ins Gebiet. Ein Druckmittel, um die in Gaza regierende Hamas dazu zu bringen, die mehr als 150 Geiseln freizulassen.
Wo sind die Geiseln?
So verständlich die israelische Reaktion auf den Hamas-Terror ist, so fatal ist das Handeln von Benjamin Netanyahus Regierung in den Augen von Beobachtern. Oliver Diggelmann, Professor für öffentliches Recht an der Uni Zürich, bezeichnet etwa die Abschaltung der Elektrizität gegenüber SRF als «Kriegsverbrechen», weil deswegen auch unschuldige Menschen in Spitälern sterben können.
Elizabeth Cossor, Palästina-Verantwortliche beim Hilfswerk Terre des Hommes, betont gegenüber Blick: «Unter den aktuellen Umständen und ohne die Fortsetzung der humanitären Hilfe werden die Menschen im Freiluftgefängnis Gaza nicht überleben.»
Mohammed Zaanoun versucht derweil, seine vier Kinder so gut es geht zu beruhigen. Und die von der Hamas entführten Kinder und anderen Geiseln? Was weiss er über sie? «Nichts», sagt er. «Ich habe keine Ahnung, wo die sind oder wie es ihnen geht. Ich weiss nur: Es ist falsch, zivile Menschen anzugreifen, hier genauso wie in Israel.»
Viele wollen weg, aber die Wege sind versperrt
Geschätzte 30'000 Kämpfer hat die radikalislamische Hamas in ihren Reihen. Hunderttausende Menschen im Gazastreifen haben nichts mit ihnen zu tun. Und trotzdem geraten sie jetzt ins Visier der israelischen Gegenoffensive. Fliehen? Geht nicht. Der Grenzübergang zu Ägypten ist zu. Israel lässt derzeit niemandem aus dem Gazastreifen ins Land. Was bleibt, ist die gefährliche Flucht hinaus aufs offene Meer.
Mohammed Zaanoun aber will bleiben. «Ich will der Welt mit meinen Bildern zeigen, was hier passiert. Vielleicht schaut jemand hin.» Falls nicht, wird Gaza zum absoluten Horrorstreifen.