Mehr als 1100 Tote auf beiden Seiten, über hundert Geiseln, Tausende zerstörte Gebäude: Der Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel hat den Nahen Osten ins blutige Chaos gestürzt. 300'000 Reservisten hat die israelische Armee einberufen, um der Lage im Land wieder Herr zu werden – mehr als jemals zuvor in der israelischen Geschichte.
Drei Szenarien gibt es, wie sich der Krieg in Israel und Palästina in den kommenden Tagen entwickeln könnte:
Totale Eskalation: Israel zerstört die Hamas
Die israelische Regierung hat härteste Konsequenzen für die Hamas-Angreifer und ihre Unterstützer angekündigt. Mehr als 800 Ziele im dicht besiedelten Gazastreifen (rund zwei Millionen Bewohner auf einer Fläche deutlich kleiner als der Bodensee) haben israelische Kampfjets und Raketen schon unter Beschuss genommen. Laut amerikanischen Medien steht eine Bodeninvasion unmittelbar bevor. Israelische Diplomaten, etwa Botschafter Ron Prosor (64) in Berlin, mahnten bereits am Samstag, man müsse Israel jetzt freie Hand lassen und dürfe die zu erwartende heftige Gegenreaktion nicht verurteilen.
Michel Wyss (36), Militärexperte an der Militärakademie der ETH-Zürich (MILAK), sagt, Israel wäre militärisch durchaus in der Lage, die Hamas auszulöschen. «Die vollständige Zerstörung der Hamas hätte aber wohl Chaos und ein Machtvakuum im Gazastreifen zur Folge.» Die Instabilität wäre gross, Israels Sicherheit zusätzlich gefährdet. «Israel steckt im strategischen Dilemma», erklärt Wyss.
Sofortiger Stopp: Angst um die Geiseln
Die Hamas-Kämpfer haben bei ihrem Überfall auf südisraelische Gemeinden und auf ein Technofestival in der Wüste Negev mindestens 100 Personen, darunter auch Kinder, als Geiseln genommen und in den Gazastreifen verschleppt.
Das Fachmagazin «Foreign Policy» schreibt, die Geiseln verkomplizierten die Handlungsmöglichkeiten Israels massiv, weil die Hamas sie als lebendige Schutzschilde an strategisch wichtigen Orten verstecken kann. MILAK-Militärexperte Michel Wyss sagt, die möglicherweise bevorstehende Bodeninvasion werde durch die Präsenz der Geiseln noch einmal «erheblich erschwert» und sei mit zusätzlichen Risiken verbunden.
Einen sofortigen Stopp des israelischen Angriffs auf Gaza wäre die einzige Garantie, dass die Gefangenen nicht im Kreuzfeuer des Krieges ums Leben kommen. Auf ein baldiges Ende des Krieges deutet jedoch gar nichts hin.
Langer Krieg: Eine neue, blutige Ära
Am wahrscheinlichsten scheint derzeit das Versinken der Region in einen langanhaltenden Krieg. Darauf stellt die israelische Regierung ihre Bevölkerung ein. Die Hamas spricht auf ihren offiziellen Propaganda-Kanälen von einer «neuen Ära für unser Volk», die gerade erst angebrochen sei.
Kompliziert wird die Lage vor allem dann, wenn sich weitere Akteure – etwa die aus dem nördlichen Nachbarn Libanon heraus operierende und vom Iran finanzierte Hisbollah – in den Konflikt einschalten. Experten schätzen, dass die Hisbollah-Miliz alleine über rund 150'000 abschussfähige Raketen verfügt.
Militärexperte Wyss sagt, militärisch wäre Israel aber auch der Hisbollah überlegen. «Es ist aber fraglich, ob die Hisbollah gewillt ist, die Konfrontation mit Israel zu suchen. Israel hat seine Präsenz an der Nordgrenze bereits verstärkt und hatte in der Vergangenheit wiederholt davor gewarnt, dass ein solcher Angriff verheerende Folgen für den ganzen Libanon mit sich bringen würde.»
Klar ist: Die internationalen Aufrufe zur sofortigen Beendigung der Gewalt stossen bislang auf kein Gehör im Nahen Osten.