Kurz nach Sonnenaufgang bahnten sich am Samstag Hunderte Hamas-Kämpfer ihren Weg durch die Barrikaden zwischen dem Gazastreifen und Israel. Die schwer bewaffneten Truppen infiltrierten zahlreiche israelische Dörfer entlang der Grenze und rasten durch die angrenzende Wüste, in der eine Technoparty gerade ihren Höhepunkt erreichte.
Mittlerweile haben sich verschiedene Augenzeugen zu den blutigsten Konflikten auf ihrem Gebiet seit 50 Jahren geäussert. Mit koordiniertem Raketenhagel und gleichzeitigen Einmärschen mit motorisierten Gleitschirmen begann die Attacke der Hamas-Milizen um etwa 6.30 Uhr Ortszeit. Rudimentäre Raketen haben oft Mühe, Israels fortschrittlichem Raketenabwehrsystem «Iron Dome» zu entgehen. Weil aber gleichzeitig so viele Raketen abgefeuert wurden, konnte selbst der «Iron Dome» nicht standhalten.
Hamas-Soldaten suchten nach Zivilisten
Als Nächstes seien Angreifer mit Bulldozern gegen die befestigten Elektro- und Zementmauer gefahren und mit Motorrädern in die grenznahen Dörfer einmarschiert. Dort haben sie gezielt nach Zivilisten gesucht, wie die «New York Times» berichtet. Die Bewohner von Gaz, das nur unweit von der Grenze zum Gazastreifen liegt, sind sich regelmässige Raketenbeschüsse auf ihr Dorf gewöhnt. Doch als Amir Tibon (35) am Samstagmorgen in einem Bunker Schutz suchte, wusste er, dass dieses Mal etwas anders ist: das Geräusch der Schüsse.
«Die Terroristen waren zuerst in unserer Nachbarschaft – dann vor unserem Fenster», erzählte er der «New York Times». «Wir konnten sie reden hören.» Über Whatsapp-Gruppen versuchten sich die Nachbarn gegenseitig zu warnen. Die Milizen versuchten offenbar, in die Bunker einzudringen.
Blutiges Massaker an Festival angerichtet
Junge Israelis seien in mehreren Orten auf die Strasse gerannt, um einen erwarteten Einzelschützen zurückzudrängen. «Das kommt häufiger vor.» Vor ihren Haustüren stand aber nicht etwa ein Einzelkämpfer, sondern eine Gruppe militanter Hamas-Anhänger, bewaffnet mit Gewehren und Raketenwerfer, die wie aus dem Nichts in ihre Nachbarschaft eingedrungen war. «Wir haben nicht verstanden, was passiert ist», sagt eine Bewohnerin der Ortschaft Ofakim im Süden Israels. Ungläubig beschreiben die Anwohner, wie sich idyllische Strassen über Nacht in Lazaretts mit zu behandelnden Schusswunden und Leichen verwandelten.
Gleichzeitig tanzten Tausende junge Israelis und ausländische Touristen auf einem Musikfestival in der Negev-Wüste – viele von ihnen in bunten T-Shirts und feierlichen Outfits. Doch im Morgengrauen verwandelte sich die fröhliche Szenerie in den Schauplatz eines Massakers.
Andrey Peairie (35), der an der Party zugegen war, erzählt der «New York Times»: «Es gab nur noch Rauch, Flammen und Schüsse. Ich habe zwar einen militärischen Hintergrund, aber in einer solchen Situation war ich noch nie.»
Israel im Schlaf von Hamas überrascht
Laut Informationen der Nachrichtenagentur Reuters ermöglichte eine gezielte Täuschung den Angriff auf Israels Armee. Das sei insofern erstaunlich, als dass es gelang, die mächtigste Armee des Nahen Ostens zu überraschen.
Unter Berufung auf eine der Hamas-nahen Quelle gaukelte die Miliz-Gruppe Israel vor, nicht auf eine neue Eskalation aus zu sein. Israel wurde in dem Glauben gelassen, die kriegsmüde Hamas durch wirtschaftliche Anreize einzudämmen.
Israelische Siedlung nachgebaut, um Attacke zu üben
Währenddessen wurden im Gazastreifen Milizsoldaten ausgebildet und gedrillt. «Die Hamas hat Israel den Eindruck vermittelt, dass sie nicht zu einem Kampf bereit ist», offenbart die Quelle. Als eines der auffälligsten Elemente ihrer Vorbereitungen habe die Hamas eine israelische Siedlung im Gazastreifen nachgebaut, in der sie eine militärische Landung geübt und die Erstürmung trainiert habe, sagte die Hamas-nahe Quelle.
«Wir glaubten, dass der Fakt, dass sie zum Arbeiten kommen und Geld nach Gaza bringen, ein gewisses Mass an Ruhe schaffen würde. Wir haben uns geirrt», sagte ein Armeesprecher. «Sie haben uns erwischt.»
Insgesamt starben bei dem Angriff laut offiziellen Angaben bislang rund 700 Israelis, rund 150 wurden als Geiseln genommen und in den Gazastreifen gebracht. Infolge der Gegenangriffe kamen 413 Palästinenser ums Leben.