2200 Raketen, mindestens 100 Tote in Israel
Warum der Angriff Netanjahu politisch nützen könnte

Mit dem schlimmsten Angriff seit Jahren hat die terroristische Palästinenserorganisation Hamas Israel völlig überrumpelt. Der Nahe Osten versinkt im blutigen Chaos. Politisch könnte Israels Regierung von der Eskalation profitieren.
Publiziert: 07.10.2023 um 17:55 Uhr
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Aktualisiert: 08.10.2023 um 13:01 Uhr
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Mehr als 2200 Raketen hat die radikale Palästinenserorganisation Hamas in der Nacht auf Samstag auf Israel abgefeuert, wie die israelische Regierung verlauten lässt.
Foto: keystone-sda.ch
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Mindestens 2200 Raketenangriffe auf israelische Dörfer in einer Nacht, mehrere Angriffe schwer bewaffneter Kommandos, mindestens 100 Tote und Hunderte Verwundete auf israelischer Seite: Die radikalislamische Palästinenserorganisation Hamas hat in der Nacht auf Samstag den schlimmsten Angriff auf Israel seit Jahren verübt.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu (73) spricht von «Krieg». Muhammad Deif (58), Chef des Militärflügels der Hamas, sagt, die Zeit des «konsequenzenlosen Tobens» auf der Seite des Feindes sei vorbei. Israels Streitkräfte greifen Hamas-Stellungen im Gazastreifen an. Arabische Staaten erheben mahnend den Finger in Richtung Tel Aviv. Und die Welt wird Zeugin, wie der Nahe Osten fast auf den Tag genau 50 Jahre nach dem Überraschungsangriff arabischer Staaten auf Israel zu Beginn des Jom-Kippur-Kriegs von 1973 erneut im blutigen Chaos versinkt.

Die Attacke der Hamas – im Gazastreifen Regierungspartei und auch im palästinensischen Westjordanland inoffiziell längst stärkste politische Kraft – ist nichts anderes als ein terroristischer Überfall auf Zivilisten im ungeliebten Nachbarland. So schlimm der Angriff ist, so wenig überraschend kommt er. Politisch könnte er Israels Regierung nützen.

Vergesst den Frieden

Seit der Machtübernahme von Netanyahus in Teilen rechtsradikaler Koalition hat sich die Rhetorik zwischen den beiden zerstrittenen Nachbarn deutlich verschärft. Israel hat den illegalen Siedlungsbau im Westjordanland vorangetrieben. Netanjahu macht keinen Hehl daraus, dass er die Palästinensergebiete am liebsten gleich annektieren würde. Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas (87), der seit Jahren Neuwahlen verhindert und sich gegen den Willen seines Volkes an der Macht hält, reagierte mit völlig deplatzierten Holocaust-Verleugnungen auf die israelischen Provokationen.

Frieden? Zweistaatenlösung? Endlich eine Verschnaufpause im Pulverfass am äussersten Rand des östlichen Mittelmeers? All das ist so weit entfernt wie seit dem Sechstagekrieg von 1967.

Mehr als einmal ist der giftige Nachbarschaftsstreit in diesem Jahr gewaltsam eskaliert, zuletzt im Juli, als die israelische Armee eine grossangelegte Militäraktion gegen die palästinensische Stadt Dschenin im Westjordanland lancierte. Ein Dutzend Palästinenser kamen bei der Invasion ums Leben. Israel betont, man habe «Terrorzellen» ins Visier genommen. Die palästinensische Seite berichtet von zivilen Opfern.

Israels Schutz ist so brüchig wie noch nie

Die jüngste Eskalation trifft Israel in einem besonders empfindlichen Moment. In diesen Wochen entscheidet sich endgültig, ob die von Netanjahus Regierung durchgesetzte Justizreform rechtskräftig wird. Mit der Entmachtung des Obersten Gerichts hätte Netanjahu freie Bahn, das Land ohne politische oder juristische Hürden nach seinem Gusto umzugestalten.

Hunderttausende demonstrieren regelmässig gegen das Vorhaben. Grosse Teile der Militärreservisten, die Netanjahu gestern Samstag zum Schutz des Landes aktiviert hat, drohten damit, den Dienst zu verweigern. Israels militärischer Schutzwall ist so brüchig wie noch nie in der 75-jährigen Geschichte des Judenstaates.

Netanjahu ist der politische Sieger

Dennoch könnte Netanjahus Lager von der Eskalation politisch profitieren. Israels Gesellschaft droht ob der heissen Debatte über die Justizreform zu zerreissen. Hochrangige Militärs und Politiker warnen offen vor einem Bürgerkrieg. Selbst der standhafte Verbündete Amerika hat erste Unterstützungsgelder gestrichen und damit gedroht, die jährlich vier Milliarden Dollar Militärhilfe weiter einzuschränken, sollte Netanyahu sein radikal antidemokratisches Vorhaben tatsächlich durchziehen.

All diese Debatten dürften verstummen. Was kümmert die Menschen die Justizreform, wenn es Hamas-Raketen vom Himmel regnet? Wer will schon über Demokratie diskutieren, wenn die Kriegssirenen heulen?

Militärisch hat die Atommacht Israel von ihren zeuselnden palästinensischen Nachbarn wenig zu befürchten. Wirtschaftlich dürften die mutmasslich ausbleibenden Pilgertouristen im Heiligen Land dieses Jahr den Palästinensern (Bethlehem) ebenso sehr schaden wie den Israelis (Jerusalem, Nazareth). Politisch aber dürfte Netanjahu als Sieger aus dem jüngsten blutigen Kapitel im Nahen Osten hervorgehen. Für die Zukunft des Friedens in der Gegend verheisst das nichts Gutes.

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