Die Strassen von Metulla im Norden Israels sind verlassen, hier und da steht ein ausgebranntes Autowrack. Arie Almog (75) und Imy George (43) leben seit zehn Monaten in einer Geisterstadt. Es herrsche eine eigenartige Stille, nur durchbrochen vom Donnern der Geschosse der Hisbollah und der Luftschläge der israelischen Streitkräfte, erzählt das Paar. «Das ist nicht mehr die Stadt, wie wir sie kennen», sagt Arie Almog traurig. Und doch sind Imy und er geblieben.
Metulla ist der nördlichste Ort des Landes – und der, den die Hisbollah, die «Armee Allahs» am stärksten ins Visier genommen hat. Die Fenster vieler Häuser sind geborsten, Dächer zerschossen, mehr als ein Drittel der Gebäude sind zerstört oder stark beschädigt. Metulla ist an drei Seiten vom Grenzzaun umgeben. Es liegt direkt an der Blauen Linie, die Israel vom Libanon trennt.
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Aus der Pufferzone feuert die «Armee Allahs»
In der Theorie ist der gegenüberliegende Streifen des Nachbarstaats Libanon seit Jahrzehnten eine Pufferzone, überwacht von der UN-Beobachtungsmission Unifil. Tatsächlich hat sich hier die Hisbollah festgesetzt, die in Beirut Regierungspartei, Militärmacht und Terrormiliz zugleich ist.
Seit dem 8. Oktober 2023, einen Tag nach dem verheerenden Überfall der Hamas auf israelische Siedlungen, beschiesst die Hisbollah Israels Norden unaufhörlich mit Raketen, Mörsern und Panzerabwehrgranaten – aus «Solidarität» mit den Hamas. Israel antwortet mit Luftangriffen und Artilleriebeschuss.
Auf beiden Seiten der Grenze gab es Tote, sind Zehntausende geflohen. Metulla hatte vor dem 8. Oktober 2500 Einwohner. Heute sind es keine 100 mehr, die meisten tragen Uniform.
«Rennen wir weg, geht es so weiter»
Nur eine Handvoll Zivilisten hat sich wie Almog und George dem Befehl zur Evakuierung widersetzt. Weil sie nicht bereit sind, ihre Heimat aufzugeben und zu Flüchtlingen im eigenen Land zu werden. «Wenn wir uns vertreiben lassen, wenn wir wegrennen, geben wir den Terroristen recht, dann geht das immer so weiter», sagt Arie Almog. «Niemand kann uns unser Land wegnehmen!»
Almog ist in der Grenzregion aufgewachsen und lebt seit mehr als 40 Jahren in Metulla. Der Grenzkonflikt sei nicht neu, sagt er, Provokationen und Angriffe habe es immer gegeben. Doch diesmal ist die Intensität der Kampfhandlungen eine andere. Der Gefahr ist er sich bewusst. Seine Partnerin und er nehmen sie bewusst in Kauf. Almog fände es besser, wenn mehr Menschen dageblieben wären. «Es geht nicht um mich, sondern um unsere Art, zu leben, die wir verteidigen.»
«Regierung hat uns im Stich gelassen»
Rund 100'000 Israelis haben ihr Zuhause im Norden verlassen. Viele von ihnen hadern mit der Regierung von Premier Benjamin Netanyahu (74), deren Fokus im Süden und im Kampf gegen die Hamas liegt. So sieht es auch Liat Cohen Raviv (50) aus Metulla. «Die Regierung hat uns im Stich gelassen», sagt sie. Nach zwei Monaten in einem Hotel haben sie und ihre Familie rund 20 Kilometer südlich der Grenze in Rosh Pina ein temporäres Zuhause gefunden.
Rosh Pina, das sei quasi die neue Grenze zum Libanon, sagt Raviv. «Statt die Pufferzone zur Hisbollah im Libanon durchzusetzen, hat Israel eine neue im eigenen Land geschaffen.» Liat Cohen Raviv hat für die im Norden Evakuierten das Forum «Matzpinim» gegründet, um ihnen eine Stimme zu geben. Sie organisiert Konferenzen und tritt in Talksendungen auf.
Vor allem arbeitet sie mit «Matzpinim» an der sehnsuchtsvoll erwarteten Rückkehr in die Grenzregion: Wenn der ganze Horror dereinst vorbei ist, soll die Gemeinschaft in eine besser geschützte Heimat zurückkehren dürfen. «Ich kenne kein anderes Land, das zehn Monate lang den direkten Beschuss seiner Häuser tolerieren würde», sagt Cohen Raviv.
«Evakuierung war ein Fehler»
Die Bevölkerung im Norden fühle sich zu Recht vernachlässigt, sagt Eitan Shamir: Israel habe sich bewusst gegen einen Zweifrontenkrieg entschieden. Laut dem Leiter des Begin-Sadat-Zentrums für Strategische Studien in Israel war die grossflächige Evakuierung an der Grenze zum Libanon allerdings ein Fehler.
Zwar sei die Angst nachvollziehbar, dass nach der Hamas im Süden auch die Hisbollah im Norden israelische Siedlungen überfallen könnte: «Doch die Evakuierung der Dörfer hat es der Schiitenmiliz überhaupt erst ermöglicht, systematisch ein ziviles Gebäude nach dem anderen zu zerschiessen.»
Wären die Häuser bewohnt, würde die Hisbollah kaum einen massiven Beschuss wie in Metulla wagen, glaubt Shamir. «Es würde umgehend zu einem Krieg zwischen Israel und Libanon führen», sagt der Sicherheitsexperte. Und das wolle die Hisbollah trotz ihrer zunehmend kriegerischen Rhetorik vermeiden. Mit der Zerstörung verlassener Infrastruktur gehe sie dagegen ein kalkulierbares Risiko ein.
Aufbau wird lange dauern
Liat Cohen Raviv glaubt, dass der gesellschaftliche Schaden durch die Evakuierung gross sein wird. Der Zusammenhalt leide, die Entwurzelung hinterlasse hässliche Spuren: «Es wird lange dauern, unsere Häuser und Strassen, unsere Gemeinschaft wiederaufzubauen», sagt sie – und ist dennoch entschlossen, nach Metulla zurückzukehren. «Das alles dauert zwar länger als erwartet», sagt sie, «aber es wird enden.» 80 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner von Metulla werden ihrem Beispiel folgen, ist Cohen Raviv überzeugt.
Davon gehen auch Arie Almog und Imy George aus. «Und dann helfen wir einander, das haben wir immer getan.» Bis dahin versucht das Paar, in der Geisterstadt Metulla einen möglichst normalen Alltag zu leben. Den Garten zu pflegen, im Haus zu arbeiten.
Bei Beschuss durch die Hisbollah gehen sie wenn möglich ins Haus, aber nur noch selten in den Schutzraum. Wie auch? Die Grenze liegt so nah, dass der Alarm oft erst ertönt, wenn das Geschoss eingeschlagen ist.
Sehen können die beiden den Grenzzaun von ihrem Haus aus nicht. Ihr Daheim liegt hinter einem kleinen Hügel und damit nicht in direkter Schusslinie. Angst mache ihnen das Dröhnen der täglichen Explosionen nicht, sagt Almog. Sie leben einfach von Tag zu Tag.
Mit einem grossen Wunsch: Frieden. Und danach, dass sich die Menschen auf beiden Seiten der Blauen Linie in Zukunft akzeptieren.