Mitte November 2022 wähnte sich der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) ganz nah an seinem Ziel. Die ukrainische Armee hatte gerade Cherson befreit, auch die Befreiung der weiteren von Russland besetzten Gebiete schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Ein optimistischer Selenski verteilte Medaillen an die Soldaten, die die Grossstadt befreit hatten, und sprach vom «Anfang vom Ende des Krieges».
Etwas mehr als ein Jahr später tobt der Krieg noch immer. Die ukrainische Gegenoffensive im Sommer und Herbst ist gescheitert. Schlimmer noch: Die Russen unternehmen erste Schritte, um die Initiative auf dem Schlachtfeld wieder zu übernehmen.
Warum ein Stellungskrieg keine gute Nachricht für die Ukraine ist
«Die Russen haben wahrscheinlich Offensivoperationen in mehreren Abschnitten der Front begonnen», liest man im Lage-Update des Institute for the Study of War (ISW). Kremlchef Wladimir Putin (71) will bei den Präsidentschaftswahlen im März 2024 militärische Siege präsentieren. Dass die Rasputiza, die Schlammsaison in der Ukraine, militärische Erfolge verkompliziert, ist Putin egal.
Die Gegenoffensive hat die Ukrainer ausgelaugt, sie fokussieren sich aktuell vor allem auf den Ausbau ihrer Defensivstellungen. Die Russen hingegen greifen mit allem an, was sie haben. Kupjansk, Awdijiwka, Bachmut und Saporischschja: Überall kommt die russische Taktik der «menschlichen Wellen» zum Einsatz – mit überschaubarem Erfolg.
Die Geländegewinne sind geringfügig, die Verluste bei Kämpfern und Fahrzeugen hoch. Die Stagnation auf dem Schlachtfeld ist trotzdem keine gute Nachricht für die Ukraine.
Denn: Die russische Produktion von Artilleriemunition stellt die des Westens aktuell locker in den Schatten. Wer Artillerieüberlegenheit geniesst, kann einfacher zum Angriff übergehen. «In den vergangenen Monaten hat Russland seine Raketen sparsam eingesetzt und dürfte wieder einen anständigen Bestand angehäuft haben», sagte der niederländische Militärexperte Frederik Mertens kürzlich «Newsweek».
Ähnlich sieht es bei den Drohnen aus. «In den wichtigsten Frontabschnitten haben wir folgendes Verhältnis: eine unserer Drohnen zu fünf oder sieben feindlichen Drohnen», erklärte Yuriy Fedorenko, ukrainischer Kommandant der Kompanie «Achilles» der 92. Luftmobilbrigade, im Gespräch mit dem TV-Sender Suspilne. Der Kampfplatz wird aus der Luft permanent beobachtet. Überraschungsangriffe entwickeln sich zu einem Ding der Unmöglichkeit.
Selenski appelliert an Armee
In den Bereichen Reichweite und Präzision liegt Kiew aufgrund der westlichen Waffen klar vorne. Sie wiegen zwar viele Nachteile auf. Um aus dem aktuellen Stellungskrieg auszubrechen, reicht die aktuelle Ausrüstung der Ukrainer aber nicht aus.
Selenski forderte die Armee angesichts der nahenden russischen Winteroffensive vor wenigen Wochen dazu auf, «trotz aller Schwierigkeiten, trotz aller Erschöpfung zu hundert Prozent schlagkräftig zu sein». Der Optimismus von vor einem Jahr schien zu diesem Zeitpunkt endgültig verflogen zu sein.