Zu wenige Transfusionen
In der Ukraine fliesst das Blut, doch es fehlt an Nachschub

Blutverlust ist die Todesursache Nummer eins im modernen Krieg. Doch der Ukraine mangelt es an Ersatz, und in den Lazaretten wird zu wenig verabreicht. Zwei Ukrainerinnen wollen das ändern – in den Spendezentren und an der Front.
Publiziert: 11.12.2023 um 15:55 Uhr
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Aktualisiert: 28.12.2023 um 09:02 Uhr
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Die ukrainische Influencerin Ilona Chernobai übergiesst sich am Filmfestival in Cannes im Mai 2023 aus Protest gegen den russischen Angriff mit Kunstblut.
Foto: AFP
Joel Bedetti

Krieg ist Blutvergiessen, wortwörtlich. Dass die Russen im Winter 2022 an der Grenze zur Ukraine keine Show veranstalteten, erkannten die westlichen Geheimdienste daran, dass Putins Truppen nicht nur Panzer, sondern auch Blutkonserven mitgebracht hatten.

Am 24. Februar rollten die Panzer los, seither fliesst das Blut. Es fliesst aus Körpern, aus alten und jungen, vor allem aus jungen, es färbt Uniformen dunkel und versickert in der Erde, das ukrainische in der eigenen, das russische in einer fremden. Manchmal rinnt es auch über Wohnungsflure oder Restauranttische, wo immer die Geschosse eben einschlagen.

Seit Hygiene und Antibiotika bis zum Zweiten Weltkrieg Infektionskrankheiten aus Lazaretten vertrieben haben, ist Hämorrhagie, Blutverlust, die Todesursache Nummer eins im Krieg. US-Militärärzte schätzen in einer Studie von August, dass ein Viertel der ukrainischen Verwundeten mit Blutschock eingeliefert wird, viele weitere benötigen eine Transfusion.

Die untote Sowjetunion

Blut versorgt den Körper mit Sauerstoff. Fehlt er, sterben erst Zellen ab und dann ganze Organe. Verblutende frieren, weil die Gefässe auch die Heizungsrohre des Körpers sind, und ihr Herz rast, weil es verzweifelt versucht, das übrige Blut zu den Organen zu pumpen. Der Panik folgt oft Gleichmut, weil das Hirn herunterfährt, und dann der Tod – oder eine Transfusion.

Mehr als 60 Prozent der vermeidbaren Todesfälle sind laut dem ukrainischen Gesundheitsministerium auf Hämorrhagie zurückzuführen. Ein Grund: Die Ukraine hat zu wenig Ersatzblut. In den Spendezentren kommt zu wenig zusammen, und vorne an der Front wird zu wenig verabreicht.

Der Blutmangel hat dieselbe Ursache wie der Krieg: die sowjetische Vergangenheit der Ukraine. Die Menschen, die ihn bekämpfen, sind auffällig oft Frauen, die gegen Ukrainerinnen und Behörden antreten, in denen die Sowjetunion noch wie eine Untote herumgeistert und dann und wann mit rostigem Hammer und abgewetzter Sichel zuschlägt.

Der Kampf ums Blut ist deshalb auch der Kampf einer Ukraine, die ins Neue aufgebrochen ist, gegen eine, die sich an Altem festklammert.

«Nur ein Idiot vertraute dem Staat»

Spitäler waren in der Sowjetunion, wie die ganze Gesellschaft, Orte mit steilen Hierarchien. Der Arzt behandelte, der Patient gehorchte. Prävention war ein Fremdwort, dafür verschrieben die Ärzte massenhaft Billig-Antibiotika, das Keime resistent machte, statt sie zu töten.

Als die Sowjetunion und mit ihr das Gesundheitssystem zusammenbrach, schossen die Übertragungskrankheiten in die Höhe: Tuberkulose, Hepatitis, HIV. Noch heute zeichnen sich postsowjetische Länder, Russland genauso wie die Ukraine, darin durch europäische Rekordwerte aus.

Aids traf die Blutbanken Osteuropas darum hart. Auch, weil in der Sowjetunion niemand freiwillig Blut gespendet hatte. Man tat es, weil man einen Tageslohn dafür kassierte, oder wenn ein Verwandter einen Unfall hatte. «Nur ein Idiot vertraute dem Staat, denn der kümmerte sich auch in dem Bereich nur um Korruption», sagt Irina Slawinska(38). Die Ökonomin modernisiert im Auftrag des ukrainischen Gesundheitsministeriums das Blutspendewesen.

Die Folge: Bis vor wenigen Jahren nahm die ukrainische Blutbank, was eben kam: Drogensüchtige, die sich ein paar Batzen verdienen wollten, Angehörige von Verblutenden, die Krankheiten verschwiegen. Das Testgerät war unzuverlässig, manch einer holte sich mit fremdem Blut HIV, in der Ukraine so häufig wie kaum anderswo in Europa.

Das Testgerät wurde 2019 durch zuverlässiges Equipment ersetzt, doch die Angst ist geblieben. Und der Feind nutzt sie aus, indem er Fake-News zu HIV-verseuchten Nato-Blutlieferungen streut. «Vor der Invasion hatten wir zwölf Blutspenden pro 1000 Einwohner», sagt Slawinska, «selbst in Friedenszeiten würden wir 33 brauchen.»

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Schlangen vor Blutspendezentren, hier in Lwiw, sollen vermieden werden, denn auch medizinische Einrichtungen werden von Russland bombardiert.
Foto: AFP

Auch Spendezentren werden zerbombt

Jetzt, im Krieg, braucht das Land Schätzungen zufolge über 40 Prozent mehr Blut. Zugleich ist ein Fünftel der potenziellen Spender ins Ausland geflohen. Slawinska tut derzeit deshalb im Eiltempo das, was sie 2015mit ihrer NGO DonorUA gestartet hat: Sie trommelt freiwillige, gesunde und regelmässige Spender zusammen.

Für diesen Kulturwandel bringen die Teams von DonorUA die Blutspende aus den ungeliebten medizinischen Einrichtungen in Shoppingcenter und Hotellobbys. «Vor netter Tapete Adern zu lassen, ist was anderes als im Spital», sagt Slawinska. «Blutspenden soll Spass machen.» Es ist ein Kampf gegen Gewohnheiten: Seit der Invasion suchen die Ukrainerinnen und Ukrainer zwar häufiger Blutspendezentren auf, doch sie tun es noch immer sprunghaft. «Sie gehen, wenn Bomben gefallen sind oder ein Freund verwundet wurde», sagt Slawsinka.

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«Blut ist eine militärische Ressource, genau wie Esswaren, Munition, Ersatzteile und Schmerzmittel»
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Manchmal kommt so genügend Blut zusammen, manchmal nicht. Immerhin: Das elektronische Register von DonorUA führt derzeit über 140'000 Spenderinnen, vor dem Krieg waren es 40'000. Digitalisiert werden auch die Termine, denn Schlangen vor den Spendezentren sind nicht ratsam. Jenes in Kharkiw wurde wenige Tage nach der Invasion beschossen, seither wird Blut im Keller gesammelt. Diesen August war Kupiansk an die Reihe, zwei Leute starben.

Ist das Spenderblut gezapft und getestet, wird es in Kühlwagen – die Fahrten sind oft von DonorUA organisiert und crowdgefunded – zur Front im Süden und Osten der Ukraine gebracht. Blut ist eine militärische Ressource, genau wie Esswaren, Munition, Ersatzteile und Schmerzmittel. Es ist das «strategische eine Prozent», wie es der Militärlogistiker Ronald Ti nennt, weil es tonnagemässig wenig ausmacht, aber eine umso grössere Wirkung erzielt. Das realisierten auch die USA in ihrem jüngsten Krieg.

Kleine Lebensretter für 40 Franken

2010 wälzten US-Militärmediziner die Akten der 4596 bis dahin Gefallenen im Irak und in Afghanistan und prüften, wer zu retten gewesen wäre. Das Resultat: Fast ein Viertel hätte mit besserer Behandlung überleben können. Die Todesursache in neun von zehn Fällen: Blutung.

Und: 87 Prozent der Soldatinnen und Soldaten starben nicht in den Spitälern, sondern bereits in den Händen von Kampfsanitätern oder an Bord der Medevac-Helikopter, die sie mit Höchstgeschwindigkeit aus den zerklüfteten afghanischen Tälern flogen.

Bei der Studie stach eine Einheit hervor. Die Army Rangers, die oft in entlegenen Aussenposten operierten und stundenlang auf eine Evakuierung warten mussten. Ihre Quote der vermeidbaren Todesfälle: null Prozent. Der Grund: Die Rangers hatten konsequent TCCC angewendet. «Tactical Combat Casuality Care» war ein neues Verfahren zur Verwundetenversorgung. Anders als bisherige Verfahren fokussiert es ganz darauf, Blutungen zu stoppen.

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«Auch die ukrainische Armee müsste zum Vampir werden, denn der Feind führt einen Abnutzungskrieg»
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Das wichtigste Mittel dazu: Tourniquets – Binden mit Drehkreuzen, mit denen man in Sekundenschnelle blutende Beine oder Arme abschnürt. Tourniquets waren davor zu Unrecht im Verdacht gestanden, Amputationen zu verursachen. Heute sind die kleinen Lebensretter, Stückpreis 40 Franken, genauso Nato-Standard wie TCCC.

Ist schon zu viel Blut geflossen, reichen Tourniquets nicht aus. Deshalb rüstete die US-Armee 2012 mit dem «Vampire Program» Rettungshelikopter für Transfusionen aus. Dem Versuch waren Diskussionen vorangegangen, die Ärzte fürchteten, dass den Sanitätern in der Hektik Fehler unterlaufen würden. Doch die machten ihren Job gut – und senkten die Todesrate um über die Hälfte

Zum Schluss des «War on Terror» verloren die Amerikaner sogar die Scheu vor Transfusionen mit warmem Blut. War eine Evakuierung unmöglich, zapften die Medics Soldaten der Spendergruppe Null an und gaben das Blut den Verwundeten.

Kurz: Die US-Militärmedizin hat sich tatsächlich in einen Vampir verwandelt – durstig nach Blut. 

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Blut ist eine kriegswichtige Ressource, gerade in der US-Armee.
Foto: U.S. Department of Defense
Das Blutprogramm von Israel

Seit 2022 verfügt Israel über ein unterirdisches Blutverarbeitungszentrum nahe Tel Aviv, wo Blut für die zivilen Spitäler wie auch für die Armee getestet, verarbeitet und verteilt wird. Aufgrund der Erfahrungen der Amerikaner sind auch die israelischen Streitkräfte dazu übergegangen, Blut früh zu verabreichen – erst in der Flugevakuation, seit 2022 auch in den Ambulanzfahrzeugen der Armee.

Im bombensicheren Marcus National Blood Services Center nahe Tel Aviv wird Spenderblut verarbeitet.
keystone-sda.ch

Seit 2022 verfügt Israel über ein unterirdisches Blutverarbeitungszentrum nahe Tel Aviv, wo Blut für die zivilen Spitäler wie auch für die Armee getestet, verarbeitet und verteilt wird. Aufgrund der Erfahrungen der Amerikaner sind auch die israelischen Streitkräfte dazu übergegangen, Blut früh zu verabreichen – erst in der Flugevakuation, seit 2022 auch in den Ambulanzfahrzeugen der Armee.

Drei Tage bis zum Lazarett

Auch die ukrainische Armee müsste zum Vampir werden, denn der Feind führt einen Abnutzungskrieg. Er hat mehr Menschen auf Vorrat und Kanonen, die so unermüdlich hämmern, dass Verwundete lange in den Gräben ausharren müssen, bevor eine Evakuation möglich ist.

«Kürzlich sah ich einen Soldaten, auf dessen Verwundetenzettel das Datum von vor drei Tagen stand», sagt Mariia Nazarowa in dem schwach beleuchteten Bunker, von dem aus sie den Online-Call führt. «So lange brauchte er, um es ins Lazarett zu schaffen.»

Mariia Nazarowa, eine 27-jährige Kiewerin, hat ihre bisherige Jugend im Krieg zugebracht. Ende 2013, Mariia war 17, rannte sie mit einem improvisierten Erste-Hilfe-Kit zu den Demonstranten, die am Maidan-Platz Barrikaden errichtet hatten. Heute bildet sie Kampfsanitäter aus – und rennt als Lobbyistin für schnelle Bluttransfusionen gegen die Militärbürokratie an. 

Nach der Krimbesetzung und dem Beginn des Krieges im Donbass 2014 richtete die Ukraine ihre Armee neu nach Westen aus. Weg von Roter Armee, hin zu Nato-Standards. 2016 absolvierte Nazarowa zusammen mit einigen anderen Ukrainerinnen deshalb in den USA den 16-wöchigen Kurs zum Combat Medic, seither bilden sie ukrainische Soldaten darin aus.

Sanitätsausbildnerin Mariia Nazarowa, hier auf einem offiziellen Foto des ukrainischen Verteidigungsministeriums.

Lieber Tourniquet statt Kondom

Keine leichte Sache, denn in der Roten Armee, in der auch Soldaten Verbrauchsmaterial waren, mussten sich Verwundete selbst helfen. In einem der ersten Kurse prahlte ein Veteran damit, wie er im Afghanistan-Krieg einem Kameraden das blutende Bein mit einem Kondom abgebunden hatte. Das Kondom killte die Nerven im Bein, es musste amputiert werden. Die Ausbildner legten dem Mann nahe, künftig ein Tourniquet zu verwenden, der war darauf düpiert. 

Doch Nazarowa und ihre Kolleginnen zogen es durch. Sie schickten Soldaten, die Erste Hilfe als lästige Pflichtübung betrachteten, zu ihren Einheiten zurück, und bildeten nach und nach fähige Medics aus. Bis vor der Invasion waren es 650, viele davon freiwillige Frauen.

In einer Streitkraft von mehreren Hunderttausend Mann war das ein Tropfen auf den heissen Stein. In die Bresche sprang die Zivilgesellschaft. Dass die Ukraine, anders als Russland, eine funktionierende taktische Medizin hat, ist Dutzenden von NGOs zu verdanken, die Kampfsanitäter mit Tourniquets eindecken und dafür sorgen, dass sie wenigstens ein paar Tage in TCCC unterrichtet werden.

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Für die Scharmützel im Donbass reichte das. Doch der 24. Februar 2022 änderte die Spielregeln. Der Kampf ums Überleben begann. Die Medics versorgen nun vor allem schwere Blutungen, die Artillerietreffer verursachen. Evakuationen erfolgen meist nachts, wenn die Kanonen schweigen. Es sind quälend lange Fahrten, ohne Licht, um keine Drohnen anzulocken, und im Schritttempo, damit Schlaglöcher die gestillten Blutungen nicht wieder zum Laufen bringen. Ist das Lazarett erreicht, ist aus dem Verwundeten oft ein Gefallener geworden.

Ministerium dafür, Armee dagegen

Das ukrainische Gesundheitsministerium, eine Institution mit westlich orientierten Beamtinnen, bereits die treibende Kraft hinter der Ausbildung von Kampfsanitätern, schlug darum im vergangenen Jahr vor, diese darin zu trainieren, Blut zu verabreichen.

Diesen Juni, die ukrainische Offensive lief an, die Opferzahlen schnellten in die Höhe, wollte das Kabinett das Gesetz dazu verabschieden. Doch das Kommando der Sanitätskräfte legte sein Veto ein: Bluttransfusionen sollten ein ärztliches Privileg bleiben, fand es, und warnte alle anderen davor, «illegale medizinische Aktivitäten» zu betreiben.

Combat Medics protestieren, Mariia Nazarowa schrieb Mails, in denen sie an US-Studien zu Bluttransfusionen erinnerte, die kaum Komplikationen dokumentieren, dafür viele gerettete Leben. «Es ist ja nicht so, dass wir hier Christoph Kolumbus spielen», ärgert sie sich. «Die Amerikaner servieren uns ihre Erfahrung auf dem Silbertablett, wir müssen nur zugreifen.»

Nazarowa bildet ihre Medics deshalb für Transfusionen aus. Und Freiwilligeneinheiten, die weniger eng in die Armeehierarchie eingebunden sind, praktizieren diese längst. Sie kaufen per Crowdfunding Transfusionskits und Kühlboxen, das Blut bestellen sie mit der Unterschrift eines Arztes offiziell bei der ukrainischen Blutbank.

Das führt zu riesigen Unterschieden in den Rettungsketten. Die Volunteer-Einheit «Da Vinci Wölfe» etwa verfügt über Krankenwagen, übermalt, weil der Feind auf rote Kreuze schiesst, und gibt schon während der Evakuation Blut. Andere Einheiten hieven ihre Verwundeten in einen Pick-up und hoffen, dass sie lebend das Lazarett erreichen.

Tödliche Billigware

Ende Juli unterschrieben NGOs und Kampfsanitäterinnen darum einen Appell an die Armeeführung, taktische Medizin endlich ernst zu nehmen. Es ging nicht mehr nur ums Recht auf Transfusionen, sondern um chinesische Tourniquet. Und darum, wer in dem leisen Krieg, den das Land abseits des lauten auch noch mit sich selbst führt, die Oberhand behält: Team neue Ukraine gegen Team alte Ukraine.

Im Sommer verbreiteten sich in der Ukraine Warnungen vor chinesischen Billig-Tourniquets, die oft brechen und damit zur Todesfalle werden. Tausende davon, kam heraus, stammten aus offizieller Quelle: Das Kommando der Sanitätskräfte hatte sie erhalten und, ohne zu prüfen, an die Truppen ausgegeben. Die Behörde reagierte in bester Sowjet-Tradition und wies alle Schuld von sich. Am Ende erhielt der Offizier, der die Sache öffentlich gemacht hatte, einen Verweis.

Maria Nazarowa lacht, als sie davon erzählt, zugleich rinnen ihr ein paar Tränen runter, weil Soldaten an solchen Absurditäten sterben. Die Fake-Tourniquets werden jetzt aus dem Verkehr gezogen, doch wenn Nazarowa von Kiew aus zur Front fährt, sieht sie an den Checkpoints noch immer viele Soldaten, die eines an ihre Schussweste gebunden haben. «Wenn ich genug richtige dabei habe, gebe ich ihnen eines», sagt sie.

Wenn Ärzte Angst vor Blut haben

Doch es gibt auch gute Nachrichten: Anfang September setzte sich das Gesundheitsministerium durch, Kampfsanitäterinnen dürfen nun Blut geben. Im November feuerte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) die Leiterin des Sanitätskommandos. Und am selben Tag fand, zumindest offiziell, die erste Bluttransfusion in einem Schützengraben statt. 

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Neuland ist das nicht nur für Medics. In den Frontlazaretten, die oft in alten Bunkern untergebracht sind und aus denen per Messenger statt per Telefon kommuniziert wird, weil der Feind die Verwundeten sonst noch einmal bombardiert, geht Nazarowa ihrer zweiten Mission nach: Sie nimmt Ärzten die Angst vor einer Transfusion.

In ukrainischen Spitälern wird Blut nur von Anästhesistinnen verabreicht. Eingezogene Allgemeinpraktiker haben meist keine Erfahrung darin, kennen die aktuelle Forschungsliteratur nicht und tun, auch das eine Hinterlassenschaft der Sowjets, oft lieber gar nichts als etwas, das ihnen als Fehler angelastet werden könnte. «Manchmal weigern sie sich, Soldaten, die offensichtlich im Blutschock sind, eine Infusion zu geben», erzählt Nazarowa. Also erklärt die 27-jährige Sanitäterin gestandenen Medizinern die Prozeduren der Amis, die von NGOS auf ukrainisch übersetzt wurden.

Mehr Blut in der Armee, weniger im Spital

Die zivile Medizin in Spitälern geht den entgegengesetzten Weg zum militärischen Trend, Blut rasch zu verabreichen. Denn Transfusionen erhöhen bei Patienten, die bereits an Herzproblemen, Blutarmut oder Krebs leiden, das Risiko für Herzinfarkte,
Infektionen und Nierenversagen. Bei planbaren Operationen in Spitälern werden Transfusionen deshalb minimiert, nicht zuletzt auch, um die demografisch belasteten Blutbanken zu schonen.

Die zivile Medizin in Spitälern geht den entgegengesetzten Weg zum militärischen Trend, Blut rasch zu verabreichen. Denn Transfusionen erhöhen bei Patienten, die bereits an Herzproblemen, Blutarmut oder Krebs leiden, das Risiko für Herzinfarkte,
Infektionen und Nierenversagen. Bei planbaren Operationen in Spitälern werden Transfusionen deshalb minimiert, nicht zuletzt auch, um die demografisch belasteten Blutbanken zu schonen.

Fünf Beutel Blut für eine Woche

Kürzlich, erzählt Nazarowa, vermutete ein Kollege, der sie begleitete, auf dem Heimweg von einer Instruktion, dass das Team brav genickt habe, aber wohl weitermache wie bisher. Also schnorrten sie sich bei anderen Lazaretten einige Beutel Blut zusammen und kehrten für eine Schicht zum Lazarett zurück.

Bald kam ein Verwundeter auf der Trage rein, das Gesicht grau, weil das Blut überall war, nur nicht dort, wo es sein sollte, der Puls so schwach, dass er selbst am Handgelenk kaum noch zu fühlen war. Der Mann verblutete, ein Geschoss hatte eine Vene bei der Niere aufgerissen. «Niemand dachte, dass er es schafft», sagt Nazarowa, «aber wir stabilisierten ihn, er konnte in ein Spital verlegt werden.»

Im Halblicht des Bunkers grinst sie in die Linse ihres Phones, dessen Batterie nach einem langen Tag gleich leer sein wird. «Mit Transfusionen ist es wie mit Magie», sagt Nazarowa. «Man muss das Wunder sehen, um daran zu glauben.» Am nächsten Tag, erzählt sie, bestellte die Lazarettcrew Blut, erhielt aber nur fünf Beutel für eine Woche, weil Spenderblut in der Ukraine nun mal Mangelware ist und auch die Logistik Luft nach oben hat.

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Ein ukrainischer Soldat versorgt einen verwundeten Kollegen mit einem Tourniquet, das verwundete Körperstellen abschnürt.
Foto: keystone-sda.ch

Immerhin: Seit August erlaubt ein neues Gesetz den Import von Blut, europäischer Support könnte also bereits in ukrainischen Adern fliessen. Ob es das tut, ist laut Irina Slawinska vom Gesundheitsministerium Geheimsache. Schliesslich ist Blut kriegswichtiges Material.

Slaswinska und ihr Team verbessern derweil eine Plattform, mit der die vorhandenen Vorräte dorthin kommen sollen, wo sie gebraucht werden. Denn Krieg ist zwar Blutvergiessen, aber ist genug neues da, werden auch Leben gerettet. «Wir arbeiten daran», sagt Slawinksa und setzt zum Schluss des Online-Calls ein festes Lächeln auf, «bis zu unserem Happy End.»


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