Exklusiv-Interview mit dem ukrainischen Aussenminister
«Jedes Opfer verpflichtet uns dazu, alles zu tun»

Dmytro Kuleba spricht mit uns über die Schwierigkeiten, die nach Kriegsende warten – und weshalb seine Regierung den US-Wahlen mit Sorge entgegenblickt.
Publiziert: 10.12.2023 um 02:00 Uhr
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Aktualisiert: 10.12.2023 um 10:57 Uhr
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«Es wird Zeit brauchen, um das Land wieder bewohnbar zu machen»: Minister Dmytro Kuleba.
Foto: EPA
*Rolf Dobelli

Herr Kuleba, nehmen wir an, Wladimir Putin ist bereit, den folgenden Friedensvertrag zu unterzeichnen: Russland behält die Gebiete, die es jetzt kontrolliert, und Sie werden sofort Nato-Mitglied. Damit kämen Sie in den Genuss der Sicherheitsgarantie unter dem Dach der Nato. Warum würden Sie sich nicht darauf einlassen?
Dmytro Kuleba: Dies ist eine rein hypothetische Diskussion. Ich ziehe es vor, über reale Dinge zu diskutieren, anstatt über etwas, was nicht auf der Tagesordnung steht. Für diejenigen, die darüber Hypothesen aufstellen, mag das nach einem sehr lukrativen Geschäft klingen. Aber wenn man Entscheidungen von historischer Bedeutung trifft, muss man bedenken, dass man nicht nur für seine Zeitgenossen, sondern auch für künftige Generationen von Ukrainern Verantwortung trägt. Und es wird sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, zu erklären, warum wir ukrainisches Territorium an die Russen abgetreten haben. Natürlich möchte jeder vernünftige Mensch, dass dieser Albtraum so schnell wie möglich ein Ende hat. Wir alle wollen ein normales Leben führen. Der Deal, den Sie gerade beschrieben haben, würde jedoch im Grunde bedeuten, dass alle Verbrechen legitimiert werden, die Russland begangen hat.

Ist China daran interessiert, diesen Krieg fortzusetzen?
China ist nicht an einem Sieg Russlands in der Ukraine interessiert. Gleichzeitig ist China aber auch nicht an einer vollständigen Niederlage Russlands interessiert. Es ist ein Gleichgewicht. China wartet auf den Moment, in dem die Bedingungen es ihm erlauben, die Rolle eines Friedensstifters zu spielen. Eine solche Gelegenheit bieten wir bereits, nämlich die von Präsident Selenski vorgeschlagene Friedensformel. Wir freuen uns auf die Beteiligung Chinas an diesen diplomatischen Bemühungen und glauben, dass es wichtig ist, China an Bord zu haben.

Was würde ein Sieg von Trump für die Ukraine bedeuten?
Das Jahr 2024 wird für uns wegen der Wahlen in den Vereinigten Staaten holprig; die Versuchung einiger amerikanischer Kräfte, die Ukraine in die innenpolitische Agenda der USA zu integrieren, ist zu gross. Einerseits ist es offensichtlich, dass die Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf gegen die russische Aggression Teil des Vermächtnisses von Präsident Biden und beider Parteien – Demokraten und Republikanern – ist. Wenn man bei Wahlen antritt, sagt man bestimmte Dinge und tut bestimmte Dinge. Wenn man tatsächlich gewinnt und eine Autorität wird, wird es komplizierter, weil man von sehr unterschiedlichen Akteuren und Kräften umgeben ist.

Wenn Sie Bilder und Videos von der Front sehen, muss in Ihnen die Wut hochkochen. Wie gehen Sie damit um?
Ich sage mir: Der beste Weg, unsere leidenden und gefallenen Soldaten zu ehren, ist, diesen Krieg zu gewinnen. Wenn wir gewinnen, haben sie nicht umsonst ihre Hände, ihre Arme, ihre Beine verloren. Ihr Leben wurde nicht umsonst gebrochen. Sie sind nicht umsonst gestorben. Jedes Opfer verpflichtet uns dazu, alles zu tun, damit die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Also sage ich mir diesen Satz, reisse mich zusammen und arbeite weiter.

Wie halten Sie Ihre Energie aufrecht? Sie sind seit fast zwei Jahren ununterbrochen im Einsatz.
Kinder, Hunde und Vitamine. (Er lächelt und zieht eine Packung Vitamine aus seiner Tasche und hält sie in die Kamera.)

Nehmen wir an, Sie gewinnen den Krieg. Sie drängen Russland bis zu den Grenzen von 1991 zurück. Wird dieses befreite Land angesichts der vielen Landminen überhaupt bewohnbar sein?
Es wird Zeit brauchen, um es wieder bewohnbar zu machen. Dieses Gebiet von Minen zu befreien, wird wahrscheinlich die grösste Entminungsaktion der Geschichte sein.

Der Krieg könnte weitergehen, solange Wladimir Putin an der Macht bleibt. Sie sprengen russische Schiffe in die Luft. Sie sprengen Brücken und Flughäfen tief im Inneren Russlands. Warum ist es Ihnen nicht gelungen, Wladimir Putin zu beseitigen?
Das ist eine gute Frage ...

Persönlich: Dmytro Kuleba

Dmytro Iwanowytsch Kuleba (45) wurde als Sohn eines ukrainischen Diplomaten geboren. Er studierte in Kiew internationales Recht und begann anschliessend eine diplomatische Laufbahn im Aussenministerium der Ukraine. Seit der Kabinettsumbildung vom 4. März 2020 ist er Aussenminister der Ukraine. Zudem ist Autor von «Der Krieg um die Realität: Wie man in der Welt der Fälschungen, Wahrheiten und Gemeinschaften gewinnt» und Mitglied des Executive Advisory Board von World.Minds. Kuleba ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Dmytro Iwanowytsch Kuleba (45) wurde als Sohn eines ukrainischen Diplomaten geboren. Er studierte in Kiew internationales Recht und begann anschliessend eine diplomatische Laufbahn im Aussenministerium der Ukraine. Seit der Kabinettsumbildung vom 4. März 2020 ist er Aussenminister der Ukraine. Zudem ist Autor von «Der Krieg um die Realität: Wie man in der Welt der Fälschungen, Wahrheiten und Gemeinschaften gewinnt» und Mitglied des Executive Advisory Board von World.Minds. Kuleba ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Wie wirkt sich der Krieg in Israel auf die Ukraine aus?
Ich wünschte, der Krieg in Israel hätte nie stattgefunden und nicht so viele Menschenleben auf beiden Seiten gefordert. Wir haben auf den Titelseiten der Medien definitiv einige Plätze verloren. Dennoch habe ich nicht das Gefühl, dass wir unseren Platz auf der Liste der wichtigsten Prioritäten in der Welt verloren haben. Leider hat der Mensch diese Eigenschaft: Er gewöhnt sich an alles. So haben sich die Menschen an den Krieg in der Ukraine gewöhnt. Die Menschen werden sich auch an den Krieg im Nahen Osten gewöhnen, wenn er länger andauert. Und es wird neue Krisen geben, neue Kriege, die frühere Kriege und Konflikte von den Titelseiten verdrängen werden. So funktioniert es. Meine Aufgabe und die Aufgabe des gesamten Teams von Präsident Selenksi ist es, den Krieg zu gewinnen, und das ist es, worauf wir uns konzentrieren.

*Rolf Dobelli ist Schriftsteller und Gründer von World.Minds, einer Community der weltweit führenden Köpfe in Wissenschaft, Wirtschaft und Geopolitik. Er lebt in Bern. 


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