Viele hatten davor gewarnt, doch Boris Johnson (58) hat das Ding mit brachialer Konsequenz durchgezogen: Am 31. Januar 2020 koppelte der damalige britische Premierminister das Königreich von der EU ab mit dem Versprechen, das Land im Alleingang in «ein goldenes Zeitalter» zu führen.
Genau drei Jahre nach dem Brexit herrscht mehr als nur Ernüchterung. Der Brexit – in Kombination mit der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine – hat das Königreich in eine Rezession und ins Elend gestürzt. Viele Briten können die Rechnung für Strom und Heizung nicht mehr bezahlen, sogar fürs Essen reicht es teilweise nicht mehr. Jeder fünfte Brite ist von Armut betroffen – in Wohlfahrtsstaaten auf dem Kontinent kaum vorstellbar.
Weil es an Geld und Personal fehlt, darben Industrie, Handel, Restaurants, Wissenschaftler und Künstler. Gleichzeitig erschweren Grenzkontrollen und Handelsschranken der EU das Leben der Unternehmer. Bei den Gastrobetrieben ist die Zahl der Insolvenzen um zwei Drittel angestiegen. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) bezeichnet den Brexit sowohl für Grossbritannien als auch die EU als ein «wirtschaftliches Desaster».
Die falschen Versprechen
Viele der Brexit-Versprechen konnten nicht gehalten werden. Im Gegenteil: Oft ging der Schuss nach hinten los. Eine Auswahl:
Geldsegen für die Gesundheit: Die Brexiteers prophezeiten, dass wöchentlich 350 Millionen Pfund statt nach Brüssel in den nationalen Gesundheitsdienst fliessen würden. Die Realität: Mitte Januar sind die Pflegekräfte in Streik getreten. Sie wehren sich gegen den «absolut katastrophalen» Zustand im Gesundheitswesen. Vom Geldsegen ist nichts zu sehen.
Höhere Löhne: Die Arbeit sollte zu fairen Löhnen unter den Briten verteilt werden. Die Realität: Seit dem Brexit-Ja ist das Bruttoinlandsprodukt um 5,2 Prozent geschrumpft. Die Inflation beträgt zurzeit rund 11 Prozent. Mit Streiks werden höhere Löhne gefordert.
Neue Handelsabkommen: Johnson bandelte mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump (76) an. Die Rede war von einem «sehr umfassenden Freihandelsabkommen» mit den USA. Die Realität: Einzig mit Australien und Neuseeland hat London Verträge abgeschlossen, die aber den Handelsausfall mit der EU nie kompensieren. Der Vertrag mit den USA liegt in weiter Ferne.
Kontrolle über die Fischerei: Zwischen der EU und Grossbritannien herrscht ein erbitterter Streit über Fangquoten. Johnson hatte versprochen, dass Grossbritannien die vollständige Kontrolle über seine Gewässer zurückerlangen würde. Die Realität: Ein neues Abkommen sieht vor, dass die Fangrechte der EU-Fischer nach und nach um nur 25 Prozent gekürzt werden.
Immigration einschränken: Ein strenges Gesetz sollte die Zuwanderung massiv einschränken. Die Realität: Nach dem Brexit haben tatsächlich 330’000 Arbeiter aus der EU das Land verlassen. 2022 ist die Zuwanderung aber auf einen Rekordwert angestiegen. Es kamen viele unqualifizierte Personen, die den massiven Fachkräftemangel – es fehlten bis zu 100’000 Lastwagenchauffeure – nie beheben können.
Mehrheit will Rückkehr
Um die Brexit-Treiber von damals ist es still geworden. Premier Johnson musste wegen mehreren Skandalen zurücktreten. Der Staubsaugerproduzent James Dyson (75) hatte sich zwischenzeitlich nach Singapur abgesetzt, Chemieingenieur Sir Jim Ratcliff (70), der sein neues E-Auto in Wales produzieren wollte, nach Frankreich. Weitere damals schillernde Figuren wie der ehemalige Ukip-Chef Nigel Farage (58) und Stratege Dominic Cummings (51) von «Vote Leave» sind in der Versenkung verschwunden.
In Grossbritannien hat der Wind gedreht – unter anderem auch, weil die Grenzfrage zwischen Nordirland und der Republik Irland kaum zu lösen ist. In Umfragen sagen rund 60 Prozent der Briten, dass der Brexit die falsche Entscheidung war. 57 Prozent plädieren für eine Rückkehr in die EU.
Zur Diskussion steht auch eine Annäherung nach «Schweizer Art», also einer Kopplung an Zollunion und Binnenmarkt, wie die «Sunday Times» auf einer Titelseite im November 2022 schrieb. Allerdings ist die Rückkehr der Personenfreizügigkeit für viele weiterhin ein No-Go – trotz dem offensichtlichen Mangel an Arbeitskräften.
«Politisches Durcheinander»
Gilbert Casasus (67), emeritierter Professor für Europastudien, bilanziert: «Der Brexit beruhte auf Fehlversprechungen, die weder politisch glaubwürdig noch finanziell durchsetzbar waren.» Die Brexit-Abstimmung habe zu einem politischen Durcheinander geführt, welches das Vereinigte Königreich innen- sowie aussenpolitisch schwächte.
Grossbritannien habe es geschafft, innerhalb weniger Jahre fünf Regierungschefs zu nominieren, die dazu noch der gleichen Partei, den konservative Tories, angehören. Casasus: «Viele Briten und Europäer wünschen sich daher einen politischen Wechsel an der Spitze Grossbritanniens, damit das Land das verlorene Prestige und sein politisches Selbstvertrauen wieder zurückerobert.»