«Niemand ist unentbehrlich»
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Boris Johnsons Rücktrittsrede:«Niemand ist unentbehrlich»

Johnson nimmt den Hut
Europa wird den Anti-Europäer noch vermissen

Trotz Brexit und Gepoltere: Keiner hat Europa mutiger und konsequenter verteidigt als der britische Premier. Für Russland ist sein Rücktritt Gold wert. Eine Analyse von Auslandreporter Samuel Schumacher.
Publiziert: 08.07.2022 um 01:10 Uhr
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Aktualisiert: 08.07.2022 um 05:52 Uhr
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Im Wahlkampf für das Premier-Amt macht Boris Johnson 2019 mächtig Werbung für den Brexit.
Foto: AP
Samuel Schumacher

Jetzt ist er also doch umgefallen. Wie ein nimmersatter Hurrlibus ist Boris Johnson (58) die vergangenen drei Jahre über die britische Insel gewirbelt. Er hat den Kollegen im britischen Polit-Zirkus immer wieder Schnippchen geschlagen. Ein Musterknabe war er nie, selten nur ein Gentleman, allzu oft schlicht ein Lügner.

Mit seinem Brexit hat er einen Keil getrieben zwischen das Königreich und den Kontinent – und die Nachbarn hat er derart aufgeschreckt, dass Schottland wohl bald zum zweiten Mal über seine Unabhängigkeit abstimmen wird. Doch ausgerechnet der Abgang des vermeintlichen Anti-Europäers wird Europa jetzt arg zu schaffen machen.

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90 Prozent der Ukrainer sind für Johnson

Natürlich: «BoJo», wie ihn die Briten nennen, hat der Alten Welt einen mächtigen Tritt versetzt. Im entscheidenden Moment aber hat sich Johnson eines Besseren besonnen und sich mächtig aufgebäumt: Als Wladimir Putin (69) Europa hinterrücks angriff, war der britische Regierungschef sofort zur Stelle. Keiner war seit Kriegsausbruch öfter beim ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (44) zu Besuch, um der Ukraine seine Solidarität zu beweisen. Und nur einer – Joe Biden (79) – hat den Ukrainern mehr Waffen geliefert.

In der Ukraine lieben sie ihn dafür. 90 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner im kriegsgeplagten Land stehen hinter Johnson. Selenski hat ihm nach seinem Rücktritt am Telefon höchstpersönlich für seine grosse Unterstützung gedankt. Wenn die Ukraine den Krieg einst gewonnen haben wird, dann sei das auch Johnsons Verdienst, lobte ihn Selenski.

Die britische Hilfe an Kiew wird nach Johnsons Abtritt zwar nicht versiegen. Die Ukrainer aber wissen: Einen ähnlich enthusiastischen Fürsprecher wie Johnson finden sie im schläfrigen europäischen Polit-Zirkus nicht so schnell wieder.

Russen beschimpfen ihn als «dummen Clown»

Wie wichtig Johnson für Europas Kampf gegen Putins diktatorischen Klammergriff war, zeigen auch die Reaktionen aus Moskau. Ex-Präsident Dmitri Medwedew (56) freute sich über den Abgang des «niveaulosen, unverfrorenen» Politikers. Putin-Sprecher Dmitri Peskow (54) gestand ganz offen, Russland möge Johnson nicht. Und der Oligarch Oleg Deripaska (54) bezeichnete den scheidenden britischen Premier kurzerhand als «dummen Clown».

Johnson, der schillernde Individualist mit all seinen Ecken und Kanten, passte ganz und gar nicht ins Bild der Russen. Putin mag zahme Herdentiere, die schweigend fressen, was er ihnen vorwirft. Johnson war das Gegenteil davon: ein struwweliger blonder Wolf ohne Beisshemmungen – nicht mal im Angesicht des brüllenden russischen Bären.

Genau deshalb wird uns Johnson fehlen. Keiner fuhr die Krallen gegen Putin so eloquent aus wie er. Keiner sprach dem Kreml so unverblümt ins Gewissen. Mag sein, dass sein Ego nicht zum Etikett der britischen Politik passte. Putins brutale Realpolitik aber hat er verstanden wie kein anderer.

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