5977 atomare Sprengköpfe lagern derzeit in russischen Depots, schätzt die Föderation amerikanischer Wissenschaftler in ihrem aktuellen Bericht zum «Status der Nuklearmächte». Doch die Uran-Bomben sind nicht das einzige nukleare Instrument, das Wladimir Putin (69) gegen die Ukraine oder seine Widersacher im Westen einsetzen könnte. Mindestens so verheerend wie der Angriff mit einer Atombombe wäre ein Unfall im ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja.
Das grösste AKW Europas liegt im von Russland besetzten Gebiet in der Stadt Energodar, die in diesen Tagen per «Referendum» über die Zugehörigkeit zu Putins Terrorreich befindet. Seit Monaten haben russische und teils auch ukrainische Kräfte das Gebiet um das umkämpfte AKW immer wieder beschossen. Zuletzt schlugen in der Nacht auf Mittwoch erneut russische Raketen auf dem Gelände des Atomkraftwerks ein.
GAU in Saporischschja wäre so schlimm wie Fukushima
Wolfgang Raskob, Kerntechnik-Experte am Karlsruher Institut für Technologie, sagte zum Deutschlandfunk: Eine durch einen Raketeneinschlag verursachte Kernschmelze in Saporischschja wäre ungefähr so schlimm wie die Atomkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011. Gespräche über eine Schutzzone rund um das AKW unter Vermittlung der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) sind bislang erfolglos geblieben.
Trotz des Horrorszenarios: Bis heute harren Hunderte ukrainische Mitarbeiter im belagerten AKW aus. Ohne ihren Einsatz würde die Kühlung der Brennelemente in den sechs Reaktoren nicht funktionieren. Fällt die nötige Kühlung aus, droht der «grösste anzunehmende Unfall» (GAU). Heute schon funktioniert die Kühlung im vom Stromnetz abgeschnittenen AKW nur noch dank riesigen Dieselgeneratoren. Fallen diese aus, steht die Welt nach Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) vor einer weiteren atomaren Katastrophe.
Sie kehrt freiwillig in den Horror von Energodar zurück
Kateryna (45) war bis vor kurzem eine der mutigen Mitarbeiterinnen im AKW Saporischschja. Anfang Monat ist sie mit ihrem Sohn und ihrem Mann aus dem besetzten Gebiet in die Ukraine geflohen. «Die Arbeiter im AKW sind konstant unter maximalem Stress. Nach der Arbeit rennen sie nach Hause, in der Hoffnung, nicht von russischen Geschossen getroffen zu werden», erzählt Kateryna unserem Übersetzer in der Ukraine. Manchmal seien sie nach Ende ihrer Achtstundenschicht auch gar nicht nach Hause gelassen worden und hätten gleich noch eine Achtstundenschicht anhängen müssen.
Es sei zunehmend schwierig geworden, in Energodar frisches Wasser oder Lebensmittel zu erhalten, von psychologischer Unterstützung ganz zu schweigen. «Der Mensch ist für vieles gemacht, aber nicht für das», sagt Kateryna. «Irgendwann bricht jeder. Und dann müssen meine Kollegen ihre Arbeit aufgeben. Das Resultat wäre eine globale Katastrophe! Wir stehen nur noch einen Millimeter vor diesem nuklearen Abgrund.» Die Welt aber würde das schlicht nicht verstehen. «Wir schreien, wir rufen euch dazu auf hinzuschauen.» Ende Monat will Kateryna nach Energodar zurückkehren und ihre Arbeit wiederaufnehmen: «Ich zittere am ganzen Körper, wenn ich daran denke. Aber ich habe keine andere Wahl – die Welt hat keine andere Wahl.»