Hier lagern russische Lastwagen
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Im AKW in Saporischja:Hier lagern russische Lastwagen

Kampf ums AKW Saporischschja
So gefährlich wäre ein Super-GAU für die Schweiz

Die Welt hat Angst vor einer Nuklearkatastrohpe im AKW Saporischschja. Blick erklärt, was passieren muss, damit das Worst-Case-Szenario eintritt. Und ob die radioaktive Wolke bis in die Schweiz gelangen könnte.
Publiziert: 29.08.2022 um 10:33 Uhr
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Aktualisiert: 29.08.2022 um 17:47 Uhr
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Die sechs Reaktorblöcke des AKWs in Saporischschja. Sie versorgen beinahe den ganzen Süden der Ukraine mit Strom.
Foto: keystone-sda.ch
Fabian Vogt

Fast täglich schlagen rund ums AKW Saporischschja Geschosse ein. Um die Lage besser einschätzen zu können, hat sich am Montag ein Expertenteam der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) auf den Weg dorthin gemacht. Zehn Jahre nach Fukushima hat die Welt Angst vor einer neuen Nuklearkatastrophe. Der ukrainische Präsident Wolodmir Selenski (44) sagt, ein solcher Super-GAU würde auch die EU treffen. Blick hat mit Annalisa Manera, Professorin für Nukleare Systeme und Mehrphasenströmungen an der ETH Zürich, gesprochen und analysiert, was in einem AKW alles schiefgehen muss, damit es tatsächlich zur Katastrophe kommt. Und wie weitreichend die Folgen für Europa tatsächlich wären.

Das AKW Saporischschja
Auf dem Gelände des AKW Saporischschja stehen sechs Reaktorblöcke mit je fast 1000 Megawatt Leistung, von denen derzeit zwei in Betrieb sind. Sie sind das Herzstück der Anlage und versorgen beinahe den gesamten Süden der Ukraine mit Strom. Das Gelände, auf dem die Reaktoren stehen, befindet sich am Fluss Dnjepr. Dieser trennt derzeit die Fronten. Das AKW steht auf einem Gebiet, das von den Russen kontrolliert wird, auf der anderen Seite des Ufers ist ukrainisches Territorium. Darum wird in dem Bereich viel geschossen, wobei den Russen vorgeworfen wird, das AKW als Schutzschild zu benutzen. Das AKW-Gelände ist stark gesichert und mehrere Kilometer gross. Dort gibt es unter anderem eine eigene Feuerwehr, aber auch ein Zwischenlager für ausgediente, aber weiterhin radioaktiv strahlende Brennelemente.

Das Prinzip eines Atomkraftwerks
«Das Ziel jedes Kraftwerks ist, Strom zu produzieren», sagt Annalisa Manera. Dies geschieht durch einen Generator, der an einer Turbine angeschlossen ist, die von Wasserdampf betrieben wird. Der Unterschied eines AKWs zu den anderen Kraftwerken (Öl, Kohle, Gas) ist, dass nichts verbrannt werden muss, um das Wasser zu erhitzen. Stattdessen wird Wärme generiert, indem Atome gespalten werden. Dazu wird das leicht radioaktive Material Uran verwendet. Wenn dieses zerteilt wird, entstehen Neutronen, die weitere Urankerne spalten. «Das nennt sich Kettenreaktion», erklärt Manera.

Was sind die Sicherheitsmassnahmen im AKW?
In jedem Atomkraftwerk gibt es diverse Massnahmen, die diese Kettenreaktion steuern und einen radioaktiven Ausbruch verhindern. «Die erste, beziehungsweise innerste in einem Reaktor, ist die Brennstoffhülle», sagt Manera. Das ist ein versiegeltes Metallrohr, das die radioaktiven Stoffe enthält, die bei den Kettenreaktionen entstehen. Manera: «Der Reaktorkern besteht aus mehreren Tausend solcher Röhren, genannt Brennstäbe.» Das oberste Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass sich diese Brennstäbe nicht zu stark erhitzen, weil sie ansonsten schmelzen.

Wie wird verhindert, dass die Röhrchen schmelzen?
«Die Brennstäbe befinden sich im Reaktordruckbehälter», sagt Manera. Dieser ist die zweite Barriere und besteht aus einem rostfreien Stahlbehälter mit einer Dicke von etwa 25 Zentimetern. Dieser soll verhindern, dass irgendetwas bis in den Reaktorkern gelangen oder von dort nach draussen dringen kann. Der Reaktordruckbehälter gehört in Saporischschja zum sogenannten Primärkreislauf, von denen es insgesamt vier gibt.

Gibt es noch weitere Sicherheitsmechanismen?
Die dritte – äusserste Barriere jedes Reaktors ist der sichtbare Turm, der meterhoch in den Himmel steigt. Dieser besteht aus zwei separaten Strukturen: Die innere Struktur ist eine mehrere Zentimeter dicke Hülle aus rostfreiem Stahl. Die zweite Hülle ist eine 1,6 Meter dicke Struktur aus Stahlbeton. Sie soll vor externen Ereignissen wie Flugzeugabstürzen, Überschwemmungen oder eben Munitionseinschlägen schützen. «Der Reaktorkern ist demnach dreifach geschützt», bilanziert Manera. «Alle diese Systeme verfügen zudem über ihre eigenen Sicherheitsmechanismen und sind so ausgelegt, dass sie redundant und räumlich voneinander getrennt sind sowie auf unterschiedlichen physikalischen Prinzipien basieren», sagt Manera. Erst wenn alle Sicherheitssysteme sämtlicher drei Barrieren versagen, kann Radioaktivität austreten.

Trotzdem kommt es zu Katastrophen. Wie in Fukushima. Was ging da schief?
«Eine Menge unglücklicher Umstände führten zur Katastrophe in Fukushima», sagt Manera. «Die sich in der Ukraine so nicht wiederholen können. Zuerst habe ein Erdbeben die Stromleitungen beschädigt. Was dazu geführt habe, dass automatisch die Notstrom-Dieselmotoren angelaufen seien, um das Kühlsystem des Reaktors weiterzubetreiben. «Das hätte auch funktioniert, wäre auf das Erdbeben eine knappe Stunde später nicht ein Tsunami gefolgt, der auch die Notstrom-Motoren ausser Gefecht setzte.» In Saporischschja sind diese Generatoren gegen äussere Einflüsse besser gesichert. Weil das in Fukushima nicht der Fall war, wurden die Brennstoffelemente nicht mehr gekühlt und schmolzen. Die erste Barriere war durchbrochen. «Die zweite – der rostfreie Stahlbehälter – wurde durchbrochen, weil es kein System gab, das den Reaktorbehälter von aussen kühlte», sagt Manera. Auch das wäre in Saporischschja anders. Dadurch habe Wasserstoff entweichen können und Explosionen verursacht, die stark genug waren, auch die äussere Hülle des Reaktors zu beschädigen. Damit waren alle Barrieren durchbrochen und Radioaktivität trat aus. Manera: «Solche Wasserstoffexplosionen in Saporischschja sind sehr unwahrscheinlich, weil es extra dafür entsprechende Sicherheitsmassnahmen gibt.»

Dann sind alle Sorgen einer erneuten Nuklearkatastrophe unbegründet?
Nein. «Eine Naturkatastrophe würde kaum dafür sorgen», sagt Manera. «Aber der Krieg stellt eine grosse Gefahr dar. Dass Russen und Ukrainer den Reaktor am Laufen lassen und das Gebiet als Schlachtfeld benutzen, ist völlig unverantwortlich und rücksichtslos.» Zwar hielten die Sicherheitsmauern, solange das AKW nur zufällig getroffen wird, wie es bisher der Fall ist. «Werden diese hingegen gezielt bombardiert, werden sie irgendwann nachgeben», sagt Manera. «Daran haben allerdings weder die Ukrainer noch die Russen Interesse.»

Gibt es noch andere Gefahren als direkten Beschuss?
Während die Zerstörung der Hülle praktisch ausgeschlossen werden kann, besteht die Gefahr, dass durch den Beschuss alle Stromleitungen beschädigt werden, wie es in Fukushima passierte. «In dem Fall würde der Reaktor automatisch abgeschaltet und der Notstrom-Dieselmotor angeworfen», sagt Manera. Im Gegensatz zu Fukushima sind die Dieselmotoren zwar vor äusseren Einflüssen geschützt. Allerdings wird der Diesel nach einigen Tagen zu Neige gehen. Erst vor wenigen Tagen haben die Ingenieure vor Ort einen Notfallplan erstellt, der ihnen erlaubt, für zehn Tage Diesel zu haben. Ist diese Zeit abgelaufen, ohne dass nachgefüllt wurde, bleibt der Reaktor ohne Kühlung.

«An diesem Punkt wird sich der Brennstoff im Kern der Anlage erhitzen und schliesslich die Röhrchen zum Schmelzen bringen», sagt Manera. Wie in Fukushima. Im Gegensatz zu dort würden die anderen Sicherheitsbarrieren aber intakt bleiben, glaubt die Expertin.

Trotzdem sprechen viele von einer möglichen Katastrophe. Was passiert, wenn sie eintritt?
Was im Worst-Case-Szenario – alle Sicherheitsbarrieren fallen, radioaktives Material wird freigesetzt – genau passiert, ist schwer vorauszusagen. Das hängt vor allem vom Wetter ab. Klar ist: Je weiter weg vom Zentrum des Unfalls – dem Reaktor – sich jemand aufhält, desto schwächer sind die radioaktiven Auswirkungen. Wie stark diese ausfallen, hängt vor allem vom Wetter ab. Wolfgang Raskob und sein Team vom Karlsruher Institut für Technologie haben entsprechende Modelle erstellt. Diese basieren darauf, dass ein Reaktor in Saporischschja zerstört wird und dabei rund zehn Prozent der enthaltenen Radioaktivität freigesetzt wird – das ist ungefähr so viel wie in Fukushima. Sämtliche Kalkulationen zeigen, dass insbesondere die Gebiete rund ums AKW stark betroffen wären. Herrschen starke Winde, könnten auch Russland oder die Türkei in Mitleidenschaft gezogen werden, wie es Wolodimir Selenski sagte. Die Wissenschaftler haben berechnet, dass bei jeder zehnten Explosion des AKWs die Wetterlage so wäre, dass die radiaokative Wolke bis in die Schweiz getrieben werden könnte.

Wäre das für die Schweiz gefährlich?
«Nein», sagt Annalisa Manera. «Die radioaktiven Partikel, die es in die Schweiz schaffen würden, wären zu schwach, um Folgen zu haben.» Anders sieht es dagegen rund ums AKW aus. Die Menschen in der Region würden derart starken Strahlungen ausgesetzt, dass sie langfristig schwere Gesundheitsprobleme hätten. Das würde sich allerdings erst viel später zeigen. Seit dem Ausbruch von Fukushima wurde erst bei einer Person Schilddrüsenkrebs entdeckt. Die Organisation «Internationale Ärzt*innen für Verhütung des Atomkrieges (IPPNW)» kritisiert allerdings, dass bisher auch nur in diese Richtung systematisch geforscht worden sei. Dafür gebe es seit 2011 alle zwei Jahre Ultraschallscreenings bei den Kindern der Präfektur. Dabei wären in den vergangenen drei Untersuchungsrunden zwanzig Mal mehr Krebsfälle gefunden worden, als man aufgrund der Basisinzidenz hätte erwarten können. Zudem sei in den verstrahlten Gebieten die Rate an Depressionen, Suizidalität und Posttraumatischen Belastungsstörungen weiterhin erhöht.

Wie könnte das Szenario verhindert werden?
«Es wäre sinnvoll, den Reaktor auszuschalten», sagt Manera. Zwar würde dieser dann immer noch Wärme produzieren und müsste gekühlt werden, allerdings nehme die Wärme stetig ab. Je länger der Reaktor ausgeschaltet wäre, bevor er zerstört würde, desto kleiner wären die atomaren Folgen. Der Nachteil: Beinahe der ganze Süden der Ukraine wäre dann ohne Strom. Wesentlich besser wäre es darum, das AKW-Gebiet zu einer demilitarisierten Zone zu erklären. Das fordert nicht nur Manera, sondern auch zahlreiche westliche Staatschefs und andere Wissenschaftler. Russland lehnt das bisher allerdings ab. Offiziell mit der Begründung, dass die Regierung in Kiew wegen des Krieges nicht für die Sicherheit der Atomanlagen sorgen könne. Trotzdem wird die Hoffnung nicht aufgegeben, dass eine diplomatische Lösung gefunden wird.

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