Mit grosser Sorge blickt Europa auf das AKW Saporischschja nahe der Stadt Enerhodar, das von den Russen erobert worden ist und das immer noch beschossen wird. Mit seinen sechs Blöcken und einer Gesamtleistung von 5,7 Gigawatt ist es das grösste Atomkraftwerk Europas.
Am Mittwochmorgen hat sich eine 14-köpfige Delegation der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) auf den Weg gemacht, um die Anlage zu inspizieren und mit den Angestellten zu sprechen. Für alle ist klar: Es darf kein zweites Tschernobyl geben.
Der slowenische Kernphysiker Leon Cizelj (58) ist Präsident der European Nuclear Society. Für Blick schätzt er die Sicherheit im besetzten AKW Saporischschja ein.
Für wie gefährlich halten Sie das AKW Saporischschja?
Am gefährlichsten ist die Anwesenheit und das Kommando der russischen Streitkräfte in dem von ukrainischem Personal betriebenen Kernkraftwerk. Dies eröffnet die meisten Möglichkeiten, um die Betreiber daran zu hindern, das Kraftwerk nach bestem Wissen und Gewissen zu führen, und um gezielte lokale Schäden anzurichten.
Wie sicher ist die Anlage gegen militärische Angriffe?
Kernkraftwerke werden nicht gebaut, um militärischen Angriffen zu widerstehen. Aber sie werden ausgerichtet, dass sie verschiedenen internen und externen Ereignissen standhalten, darunter Erdbeben, Brände, Tornados und Explosionen. Dies verleiht ihnen eine recht hohe Widerstandsfähigkeit gegen zufällige Angriffe. Die Anlage hat den militärischen Angriff und die Übernahme Anfang März ohne nennenswerte Schäden überstanden.
Wie viele Tage hält das AKW noch stand?
Ein Angriff mit einer Intensität, die mit dem 15 Meter hohen Tsunami in Fukushima vergleichbar ist, könnte innerhalb von etwa einem Tag zu erheblichen Strahlenschäden führen.
Welche Art von Angriff wäre am fatalsten?
Die schwerwiegendsten Strahlungsfolgen hätte die Kernschmelze eines oder mehrerer Reaktoren mit anschliessendem Bruch der Sicherheitsbehälter. Dies könnte durch die Abschaltung oder Beschädigung der Reaktorkühlsysteme erreicht werden. Da diese aber über viele Reserven verfügen, bräuchte es eine gezielte Beschädigung von rund zehn Wärmesenken und Stromquellen.
Was erwarten Sie von der IAEA-Mission?
Das ukrainische Personal tut sein Bestes, um die Anlage unter praktisch unmöglichen Bedingungen sicher zu betreiben. Ich hoffe, dass die IAEA-Mission den Angestellten viel moralische und auch angemessene technische Unterstützung bringen wird. Ich hoffe auch, dass die IAEA-Mission die Klarheit der Informationen über die Bedingungen in Saporischschja verbessern wird.