Am Sonntag wählen die Französinnen und Franzosen im zweiten Wahlgang ihren Präsidenten. Bleibt Emmanuel Macron (44) im Amt, oder bekommt Frankreich mit Marine Le Pen (53) vom rechten Rassemblement National zum ersten Mal eine Präsidentin?
Für Gilbert Casasus (66), Direktor des Zentrums für Europastudien an der Uni Freiburg, wäre ein Sieg Le Pens verheerend. Der französisch-schweizerische Doppelbürger erklärt warum und sagt, wer das Rennen machen wird.
Blick: Macron oder Le Pen – wer wird die Wahl gewinnen?
Gilbert Casasus: Macron. Trotz Ausnahmen bestätigt sich bei den meisten Mehrheitswahlen folgende Regel: Der erste Wahlgang ist erfahrungsgemäss entscheidend für das Endergebnis. Zudem zeigen alle jüngsten Umfragen einen Trend nach oben zugunsten Macrons, der auch aus dem TV-Duell am Mittwoch als Sieger hervorging.
Was würde ein Sieg Le Pens für Europa bedeuten?
Eine lebensbedrohliche Katastrophe! Le Pen möchte die EU von innen reformieren. Ihr Ziel ist, eine Allianz der Nationen mit den illiberalen Staaten wie zum Beispiel Polen und Ungarn zu schnüren, den französischen EU-Beitrag deutlich zu senken, die Verträge neu zu verhandeln und das deutsch-französische Tandem zu zerbrechen. Damit gingen mehr als 70 Jahre europäische Einigung ihrem Ende zu.
Welche Auswirkungen hätte ein Sieg Le Pens für die Schweiz?
Eine Verschlechterung der ohnehin schwierigen binationalen Beziehungen. Marine Le Pen verkörpert all das, was viele Schweizerinnen und Schweizer an den Franzosen nicht mögen: Nationalismus, Zentralismus, fehlende Kompromissbereitschaft und staatlich gelenkte Sozial- und Wirtschaftspolitik.
Warum würde sich Putin über einen Erfolg Le Pens freuen?
Sie wäre Putins trojanisches Pferd in Westeuropa. Ihre Partei pflegt seit einigen Jahren zahlreiche Kontakte – auch finanzieller Art – zur russischen Führung. Sie macht es äusserst geschickt und verurteilt den Krieg in der Ukraine neuerdings aufgrund der Preiserhöhungen und der damit verbundenen sozialen Folgen.
Warum ist Le Pen populärer denn je?
Weil sie eine Verbindung zwischen dem sozialen Denken und dem nationalistischen Gedankengut gefunden hat. Sie hat es verstanden, die Sorge um die Kaufkraft zum wichtigsten Thema des Wahlkampfes zu machen. Damit spricht sie direkt unterprivilegierte Schichten an, die den Amtsinhaber mehr als je zuvor für den ‹Präsidenten der Reichen› halten. Die sozialen Missstände Frankreichs kamen Le Pen entgegen und haben sich als Klotz am Bein Macrons festgenagelt.
Wie hat Le Pen ihren Stil verändert?
Die Familie Le Pen bestimmt seit vier Jahrzehnten die französische Politik. Inzwischen haben sie etwas dazugelernt: Sie sind hoffähiger geworden und vermitteln das Gefühl, man müsse keine Angst vor ihnen haben. Ihre Botschaft lässt keine Zweifel aufkommen. Man präsentiert sich gerne staatsmännisch sowie lieb und höflich. Doch es ist eine Schaufensterpolitik. Die Le Pens weigern sich, einen Einblick hinter die Kulissen zu geben und zu zeigen, was sich da wirklich abspielt. Marine Le Pen gibt sich menschenfreundlicher als je zuvor, aber der Eindruck täuscht.
Wie hat der rechtsextreme Éric Zemmour die Wahlen beeinflusst?
Er war im ersten Wahlgang der Blitzableiter von Marine Le Pen. Nun steht sie allein im Regen da.
Wie unterscheidet sich Le Pens Rassemblement National von der SVP?
Das Rassemblement National kommt aus der extremen Rechten und bleibt dort politisch gefangen. Die SVP ist ursprünglich eine rechtskonservative Partei, die sich in den vergangenen 30 Jahren als Scharnierpartei zwischen dem Rechtskonservatismus und dem Rechtsextremismus profiliert hat. Der RN stellt eine grössere Gefahr für die Demokratie dar als die SVP.
Was ist von den Parlamentswahlen im Juni zu erwarten?
Die Präsidentschaftswahl an diesem Sonntag schliesst den politischen Prozess nicht ab. Die Parlamentswahlen könnten zu einem Racheakt werden – nicht nur zugunsten Le Pens, sondern auch für die Linken, deren Wählerinnen und Wähler es satt haben, immer gegen eine Person und nicht für ihre eigenen Ideen zu kämpfen.