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Die von vielen Rechtspopulisten heraufbeschwörte «Zeitenwende in Europa» bleibt zwar aus, aber sie rückt näher. Rechte und rechtsradikale Parteien haben bei der Europawahl am Sonntag zugelegt. Grüne und Liberale gewinnen ebenfalls kräftig. Für die Traditionsparteien in der Mitte schaut es düster aus.
Die Ausnahme ist Österreich: Ein massives Plus für seine ÖVP verschafft einem jubilierenden Kanzler Sebastian Kurz (32) etwas Luft vor dem heutigen Misstrauensvotum. Und doch, die Ibiza-Affäre schadet der FPÖ kaum. Sie verliert nur zwei Prozent im Vergleich zur letzten Wahl 2014.
In Frankreich gewinnt die rechtspopulistische Partei Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen (50), die Präsident Emmanuel Macron (41) gleich zu Neuwahlen aufrief.
Zugewinne für Euroskeptiker
Augenreiben auch in Grossbritannien: Die EU-feindliche Brexit-Partei ist mit rund 31 Prozent der Stimmen die wohl stärkste Kraft vor den Liberaldemokraten. «Es sieht nach einem grossen Sieg für die Brexit Party aus», sagte ein triumphierender Parteigründer Nigel Farage (55). Wenn es ein zweites Brexit-Referendum geben sollte, so Farage zuversichtlich, wird seine Seite wieder gewinnen.
Ein ähnliches Bild zieht sich weiter durch Europa. Wähler protestieren. Sie sind nicht zufrieden. Die rechtspopulistische Lega von Italiens Innenminister Matteo Salvini (46) schafft es auf 30 Prozent der Stimmen. Denkwürdig: Zum ersten Mal sind die Rechtnationalisten Italiens stärkste Kraft. Sie werden Forderungen stellen.
GroKo-Debakel
In Deutschland blamieren Wähler die Union und SPD massiv. Christdemokraten und Sozialdemokraten sinken auf ein historisches Tief. Die «Grosse Koalition ist Geschichte», kommentierte die «Bild». «Grün ist das neue Rot.»
Noch nie haben die beiden deutschen Regierungsparteien bei einer Europawahl so schlecht abgeschlossen. Mit zusammen fast 20 Prozentpunkten im Minus landen sie deutlich unter 50 Prozent.
Die Grünen hingegen verdoppeln ihr Ergebnis, die AfD legt im Vergleich zur letzten Europawahl auf knapp elf Prozent zu.
Gegentrend in Dänemark, Griechenland und den Niederlanden
Gewinne auch für die Rechtspopulisten in Schweden, obwohl sich die Sozialdemokraten als stärkste Kraft behaupten. In Dänemark aber hat die rechtspopulistische Dänische Volkspartei klare Verluste hinnehmen müssen. Die Partei büsste im Vergleich zu ihrem Rekordergebnis von 26,6 Prozent bei der letzten EU-Wahl vor fünf Jahren mehr als 15 Prozentpunkte ein.
Überraschung auch in den Niederlanden, wo die Sozialdemokraten triumphieren und die Freiheitspartei (PVV) des Rechtspopulisten Geert Wilders (55) aller Voraussicht nach aus dem Europaparlament fliegt. Die europaskeptische und islamfeindliche Partei, die derzeit noch vier EU-Abgeordnete zählt, geht leer aus.
In Griechenland strafen Wähler Regierungschef Alexis Tsipras (44) und seine linke Partei Syriza ab, die Konservativen gewinnen. Tsipras fackelte nicht lange. Nach dem herben Stimmenverlust kündigte er vorgezogene Neuwahlen an.
Rechtspopulisten noch nicht am Ziel
Im neuen Parlament spiegelt sich eine gesellschaftliche Tendenz wider: Es wird fragmentierter. Zugleich mobilisiert Europa die Menschen und treibt sie an die Wahlurnen. Jeder zweite Wahlberechtigte machte sein Kreuz. Mehr als in den letzten 20 Jahren. Die Europäer wollen, dass ihre Stimme gehört wird.
Von einer Mehrheit der 751 Sitze bleibt das rechtspopulistische paneuropäische Salvini-Bündnis weit entfernt. Die Allianz mit dem Namen «Europa des gesunden Menschenverstandes» (Europe of common sense) hat dem angeblichen «Europa der Eliten» den Kampf angesagt. Doch maximal winken rund 180 Sitze, 20 mehr als bislang. Deutlich grösser ist der Zugewinn von Grünen und Liberalen.
Gespaltenes Europa
Dieses Ausscheren an den Seiten und der Einbruch in der Mitte zeigt die Ernüchterung der Menschen über den Status quo auf. Die bisherige informelle grosse Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten ist am Ende. Um sich gegen EU-Skeptiker, Rechtspopulisten und linke Kräfte zu behaupten, werden Gemässigte, Grüne und Liberale künftig besser zusammenarbeiten müssen.
Konservative bleiben trotz Verlusten stärkste Kraft, doch die Grosse Koalition der Traditionsparteien hat keine Mehrheit mehr. Es gibt Anzeichen von Umsturz. Für Europa wird es schwieriger, Konsens zu bilden. Europa scheint nicht geeint, sondern gespaltener denn je.