Was passiert mit Russland, wenn der Krieg zu Ende ist? Gehe es nach den Plänen des Westens, solle es das grösste Land der Welt gar nicht mehr geben. Das russische Volk würde auseinandergerissen werden. Dieses düstere Zukunftsszenario zeichnet zumindest der Kreml.
Letzte Woche sagte der ehemalige russische Präsident, Dmitri Medwedew (57): «Wenn Russland die militärische Spezialoperation beendet, ohne einen Sieg, dann wird Russland nicht mehr existieren, es wird zerrissen werden.»
Für Frithjof Benjamin Schenk (52), Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Basel, diene eine solche Aussage lediglich dazu, die eigene Bevölkerung für den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu mobilisieren. Medwedew versuche, Ängste in der Bevölkerung zu schüren, wonach die nationale Identität in Gefahr sei, sagt Schenk zu Blick. Einen tatsächlichen Zerfall des Landes hält Schenk für unrealistisch.
Putin: Westen will Russland kontrollieren
Jetzt greift auch Wladimir Putin (70) das Thema einer gegen Russland gerichteten Verschwörung auf. «Sie haben nur ein Ziel – die ehemalige Sowjetunion und ihren Hauptteil, die Russische Föderation, aufzulösen. Und dann werden sie uns vielleicht in die sogenannte Familie der zivilisierten Nationen aufnehmen, aber nur getrennt, jeder Teil für sich», sagt Putin in einem Interview auf dem russischen Staatssender Rossija 1. Er wirft dem Westen vor, diese einzelnen Teile dann «herumschieben» zu können und unter seine Kontrolle zu bringen.
«Wenn wir diesen Weg einschlagen, wird sich das Schicksal vieler Völker in Russland und vor allem das der Russen grundlegend ändern. Ich weiss gar nicht, ob dann eine Ethnie wie das russische Volk in seiner Form, wie es heute existiert, weiter bestehen kann. Es wird dann Moskauer und Uralier geben», sagte der russische Präsident.
Und weiter: «Das war aber schon immer der Plan. Diese Pläne sind auf Papier festgehalten. Es ist nur so, dass wir beim Aufbau von Beziehungen versucht haben, aus Gründen der Partnerschaft, nicht darüber zu sprechen. Aber jetzt, als ihre Versuche, die Welt – nach dem Zerfall der Sowjetunion – ausschliesslich nach ihren Vorstellungen neu zu gestalten, zu einer solchen Situation geführt haben, sehen wir uns gezwungen, darauf zu reagieren.» Weitere Details zu den angeblichen Plänen des Westens nannte der Kreml-Chef nicht.
«Die russischen Bürger sind nicht der Feind»
Der Westen hatte wiederholt die These dementiert, dass er Russland vernichten möchte. Wenige Tage vor dem Jahrestag des Krieges sagte US-Präsident Joe Biden (80): «Die Vereinigten Staaten und die europäischen Nationen wollen Russland nicht kontrollieren oder zerstören. Der Westen hat nicht vor, Russland anzugreifen. Und Millionen von russischen Bürgern, die nur in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, sind nicht der Feind.»
Auch der britische Aussenminister James Cleverly (53) sagte im Interview mit dem russischen, oppositionellen TV-Sender Doschd, dass das Vereinigte Königreich «grossen Respekt» vor dem russischen Volk, der russischen Geschichte und Kultur habe. «Die Entscheidung Putins ist aber ein schwerer Schlag für Russlands Reputation auf der internationalen Bühne», sagte er. «Gleichzeitig hat niemand die Absicht, Russland einen Schaden zuzufügen, geschweige denn es zu zerstören.»
Auch der französische Staatschef Emmanuel Macron (45) machte seine Position vor einigen Tagen im Interview mit dem «Figaro» deutlich. «Ich glaube nicht, wie einige andere, dass man Russland völlig besiegen und es auf seinem Territorium angreifen sollte. Diese Beobachter wollen Russland vor allem zerschlagen. Dies war nie die Position Frankreichs und wird es auch nie sein.»