Michail Chodorkowski (59) ist voller Zuversicht. Der ehemals reichste Russe will sein Land zusammen mit andern berühmten Putin-Gegnern zu einem modernen Staat umbauen. Die Helfer: Schachweltmeister Garri Kasparow (59), der ehemalige russische Ministerpräsident Michail Kassjanow (65), Giftanschlag-Opfer Wladimir Kara-Mursa (41) und weitere. Vorbild: die föderalistische Schweiz. Das sagte Chodorkowski im Exklusiv-Interview mit Blick.
Wie realistisch sind seine Pläne überhaupt? Russland-Experte Ulrich Schmid (57) von der Uni St. Gallen schliesst tatsächlich nicht aus, dass sich das Land bis in 20 Jahren zu einer offenen Gesellschaft entwickeln könnte. Einen stark ausgeprägten Föderalismus, wie ihn die Schweiz kennt, hält Schmid allerdings für kaum denkbar. Schmid: «Allenfalls könnte das deutsche Modell ein Vorbild sein.»
«System Putin» existiert weiter
Laut Verfassung ist Russland bereits eine Föderation. So heisst das Land offiziell «Russische Föderation», in dem Präsident Wladimir Putin (70) sogenannte «föderale Bevollmächtigte» eingesetzt hat. «Aber dieser Name ist Augenwischerei», sagt Schmid. Russland habe noch nie über ein funktionierendes Parlament mit einem stabilen Parteiensystem verfügt. Dazu sei ein offenes Mediensystem Voraussetzung.
Selbst wenn Putin seinen Posten verlassen würde, sei es wahrscheinlich, dass das «System Putin» weiterexistieren würde – möglicherweise in einer weniger aggressiven Form. Schmid: «Eine funktionierende Demokratie wird Russland in absehbarer Zeit nicht werden.»
Dass Russland über einen grossen Pool von ausgezeichnet ausgebildeten Spezialisten verfügt, bestätigt Schmid. Chodorkowski fordert die westlichen Staaten auf, verstärkt solche Profis abzuwerben, um Putin zu schwächen und gleichzeitig die offenen Stellen im Westen besetzen zu können. Schmid: «Dieser Braindrain ist schon in vollem Gange.»
Widerstand im Untergrund
Im Interview mit Blick sagt Chodorkowski, dass er in Russland über Youtube und soziale Medien 10 bis 15 Millionen Menschen erreiche und im Geheimen auch mit Eliten verhandle. «Der Widerstand wird erst sichtbar werden, wenn das Regime ins Taumeln gerät», sagt Chodorkowski.
Tatsächlich gibt es Widerstand, der im Keime erstickt wird. Seit Kriegsbeginn wurden laut Menschenrechtlern rund 20’000 Verhaftungen gezählt, davon 15’000 im ersten Monat. Schmid: «Es gibt immer wieder Einzelproteste, aber keine Massenproteste. Man sieht, dass die Einschüchterung funktioniert.»
Schmid zweifelt daran, dass Chodorkowski seinen Plan so umsetzen kann, wie es ihm vorschwebt. «Das Anti-War Committee mit den prominenten Oppositionellen ist zwar eine wichtige Initiative, hat aber in Russland nur einen geringen Einfluss. Es erreicht in Russland selber nur jene Bubble, die ohnehin schon gegen das Putin-Regime eingestellt ist.»
Der reichste Russe
Chodorkowski war früher Chef des inzwischen insolventen Ölkonzerns Yukos. Ihm war es gelungen, in der wilden Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion Milliarden anzuhäufen. Die Oligarchen bedienten sich damals eher zweifelhafter Methoden, um Geld zu machen.
Chodorkowski bildete sich ein Startkapital mit dem Verkauf von Computern und gründete mit 26 Jahren die Bank Menatep. Er nutzte die Bank, um sich bei Yukos einzukaufen. Die Kontrolle über den Ölkonzern erlangte er durch eine dubiose Privatisierung, bei der Insider die Anteile des Unternehmens zu Schleuderpreisen erwarben.
2004 galt Chodorkowski mit geschätzten 15 Milliarden Dollar Vermögen als reichster Mann Russlands. Von 2003 bis 2013 war er inhaftiert, weil er Putins Regime kritisiert hatte. Mit der Versteigerung des Yukos-Imperiums durch den staatlichen Energiekonzern Rosneft schrumpfte sein Vermögen auf heute geschätzte 90 Millionen Dollar. Nach seiner Freilassung wohnte er ein Jahr in Rapperswil-Jona SG, seither lebt er in London, wo er Blick diese Woche zum Interview empfing.