Südkorea ist am Dienstag von einem Politbeben erschüttert worden. Ausgerechnet das Land, das als eine der stabilsten Demokratien Asiens gilt. Es liegt auf der Demokratiematrix der Universität Würzburg (D) auf Rang 34, knapp hinter den USA (31), aber noch vor Ländern wie Israel (38), Griechenland (41) und Bulgarien (47).
Der Streit zwischen Präsident Yoon Suk-yeol (63) und dem Parlament über die Ausrufung des Kriegsrechts zeigt, wie zerbrechlich Demokratien sind. Die Krise ist eine Warnung an Staaten, in denen die Demokratie ebenfalls immer mehr auf Abwege gerät. Es sind Länder, die uns teilweise nahestehen!
Auslöser der Krise in Südkorea war die Ausrufung des Kriegsrechts durch Präsident Yoon. Er begründete den Entscheid mit der Bedrohung durch Nordkorea und warf der oppositionellen Demokratischen Partei Koreas (DPK) vor, staatsfeindliche Aktivitäten zu unterstützen.
Ihm ging es aber darum, sich im Budgetstreit gegen die Opposition, die im Parlament die Mehrheit hält, durchzusetzen. Das Kriegsrecht hätte ihm weitgehend eigenmächtiges Handeln erlaubt: Tritt es in Kraft, sind politische Aktivitäten verboten, Medien unter Zensur und die Sicherheit unter Kontrolle des Militärs.
Doch so weit ist es nicht gekommen. Nach einem heftigen Streit im Parlament und dem Aufmarsch von Soldaten musste Yoon nachgeben und den Entscheid rückgängig machen. Inzwischen fordert die Opposition seinen Rücktritt.
Demokratien auf Abwegen
Was am Dienstag in Seoul abgegangen ist, muss uns zu denken geben. Die Krise in einer seit 1990 recht gut funktionierenden Demokratie zeigt, wie anfällig dieses aufs Volk abgestützte Politsystem sein kann.
Dabei gibt es Parallelen zu den USA. In beiden Ländern sind die Fronten verhärtet, in beiden Ländern sind Spitzenpolitiker in einem aggressiven Wahlkampf bei Attentaten verletzt worden: in Südkorea am 2. Januar DPK-Oppositionspolitiker Lee Jae-myung (60) mit einem Messer am Hals, in den USA am 13. Juli Donald Trump (78) durch einen Streifschuss am Ohr.
Der deutsche Demokratieforscher Wolfgang Merkel (72) schreibt in einem Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung über die Spaltung der USA: «Wenn Identitäten, seien sie nationalistischer, religiöser, sexueller oder weltanschaulicher Provenienz, intolerante Ausprägungen annehmen und keinen Sinn für das notwendig Gemeinschaftliche entwickeln, verliert die politische Demokratie ihre soziale Basis. Sie zerfällt.»
Ob dieser Kritik an den USA mutet es schon fast anmassend an, wenn ausgerechnet US-Aussenminister Antony Blinken (62) die Südkoreaner belehrt: «Wir erwarten weiterhin, dass politische Meinungsverschiedenheiten friedlich und in Übereinstimmung mit der Rechtsstaatlichkeit gelöst werden.»
Kritik an Israel
Südkorea und die USA sind keine Einzelfälle. Seit der Weltfinanzkrise von 2008 verlören politische Regime Jahr für Jahr an demokratischer Qualität, schreibt Merkel. «Unübersehbare Demokratieverluste» zeigen sich laut Merkel in Ländern wie der Türkei, Polen, Ungarn, Italien, Brasilien und Israel.
Beispiel Israel: Suzie Navot (66) vom Israel Democracy Institute spricht in einem Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung zwar von einem «starken demokratischen Geist», aber von einer «fragilen demokratischen Struktur». So kritisiert sie unter anderem die Justizreform, welche die Autorität des Obersten Gerichtshofs erheblich schwächt und zu schweren Protesten geführt hat.
«Zerfall der Demokratie» in Ungarn
In Ungarn zeigt sich, wie sich ein EU-Land am Rande der Demokratie bewegt. Wegen Verstössen etwa gegen das EU-Asylrecht, gegen die Meinungsfreiheit und wegen mutmasslicher Manipulation des Wahlsystems ist es von der EU schon mehrfach gewarnt und gebüsst worden. Das EU-Parlament bedauert, «dass das Fehlen entschlossener Massnahmen der EU zu einem Zerfall der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn beigetragen hat».
Merkel kommt zwar zum ernüchternden Schluss: «Die besten Zeiten der Demokratie, auch in ihrer entwickelten rechtsstaatlichen Form, scheinen zunächst vorbei zu sein.»
Dennoch herrscht Hoffnung. Denn die Reaktion des südkoreanischen Parlaments, das umgehend und einstimmig die Ausrufung des Kriegsrechts rückgängig machte, zeigt auch, dass sich eine Demokratie selber zu regenerieren vermag.