Auf einen Blick
Immer wieder verärgert der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán (61) die EU mit seiner Russland-freundlichen Politik. Nun aber sorgt er in Brüssel nicht nur für Ärger, sondern für Alarmstimmung. Grund: Das neue Einwanderungsprogramm erlaubt Gastarbeitern aus Russland und Belarus einen zweijährigen Aufenthalt. Der kann um weitere drei Jahre verlängert werden und bis zu einer dauerhaften Aufenthaltsbewilligung führen.
Die Angst in Brüssel: Man befürchtet, dass Putin-Spione und Saboteure diese Tür nutzen werden, um in den grenzenlosen Schengen-Raum der EU einreisen zu können. Auch die Schweiz gehört zu dieser Zone.
Ulf Brunnbauer (53), Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg (D), vermutet, dass sich Orbán mit seiner Russland-Freundlichkeit für eine neue Weltordnung in Stellung bringt.
Nach dem Beschluss zur Lockerung der Einwanderung beteuerte der ungarische Innenminister Sándor Pintér (76) zwar, dass die Antragsteller für eine Arbeitsbewilligung ein strenges Prüfungsverfahren durchlaufen müssten. Doch die schwedische EU-Innenministerin Ylva Johansson (60) bezeichnete die Lockerung als potenzielles Sicherheitsrisiko und kündigte Massnahmen an.
Nachahmer verhindern
Die Spitzenvertreter der Europäischen Volkspartei (EVP), der grössten Partei im EU-Parlament, verlangen, dass das Thema am nächsten EU-Gipfel behandelt wird. Sie fordern strenge Massnahmen, um die Integrität des Schengen-Raums zu schützen und zu verhindern, dass auch andere Staaten ihre Grenzen für Russen und Belarussen öffnen.
Gleichzeitig zur Öffnung der Grenzen Richtung Russland und Belarus zieht Ungarn die Schraube gegen ukrainische Flüchtlinge an. Wer aus angeblich sicheren Regionen der Ukraine kommt, verliert den Schutzstatus und muss ausreisen. Wie viele der rund 46’000 ukrainischen Flüchtlinge dies betrifft, ist unklar. Ungarn hat deutlich weniger Kriegsflüchtlinge aufgenommen als andere europäische Länder.
Heute ohne Chance auf EU-Beitritt
Die EU und Ungarn liegen seit Jahren im Streit. Bei der regelmässigen Überprüfung der Mitgliedstaaten auf die Rechtsstaatlichkeit hat Brüssel in Ungarn in allen vier Säulen Verstösse festgestellt: im Justizsystem, bei den Massnahmen gegen Korruption, bei der Pressefreiheit und der Gewaltenteilung. Wegen früherer Verstösse hat die EU in den vergangenen Jahren mehrere Verfahren eingeleitet und rund 20 Milliarden Euro an EU-Hilfen eingefroren.
Ulf Brunnbauer vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung sagt gegenüber Blick: «In den 14 Jahren seiner Amtszeit hat Orbán das Land von den Werten der EU weggeführt. Ungarn hätte heute keine Chance auf einen EU-Beitritt, denn es ist keine funktionierende Demokratie mehr, und um die Rechtsstaatlichkeit ist es schlecht bestellt.»
In seinen Reden mache Orbán kein Geheimnis daraus, dass er den Westen dem Untergang geweiht sieht. Hingegen preise er das «östliche Modell», also Russland und China. So beschuldige er auch Brüssel und nicht den Kreml der «Kriegstreiberei».
Brunnbauer: «Orbán hofft offenkundig, bei einem Präsidenten Trump eine wichtige internationale Rolle spielen zu können und positioniert sich schon für eine Welt, in der es den Westen in der Form, in der wir ihn kennen, vielleicht nicht mehr geben wird.»
Rausschmiss nicht möglich
Dass die EU und Ungarn getrennte Wege gehen, steht jedoch trotz Differenzen nicht zur Diskussion. Die EU-Verträge sehen nicht vor, dass ein Mitgliedsland ausgeschlossen wird. Als schwerste Sanktion gilt der Entzug der Stimmrechte. «Ein solches Verfahren läuft gegen Ungarn. Weil dafür aber Einstimmigkeit notwendig ist, wird es wohl eher nicht dazu kommen», schätzt Brunnbauer.
Auch ein Ungarexit, also ein Austritt auf eigenen Wunsch, ist kein Thema. Denn dazu stehen für Ungarn zu hohe EU-Beiträge auf dem Spiel. Brunnbauer: «Ein Austritt wäre für die exportabhängige ungarische Ökonomie fatal.» Dafür setzt Orbán laut Brunnbauer auf eine andere Taktik. «Er sucht genügend Gleichgesinnte, um die EU nach seinen Vorstellungen umzubauen.»