Mit diesem Buch will ich eine Verteidigung des klassischen Liberalismus vorlegen, oder, sollte dieser Begriff zu sehr historisch belastet sein, dann eben eine Verteidigung dessen, was Deirdre McCloskey als «humanen Liberalismus» bezeichnet. Ich bin der Meinung, dass der Liberalismus heute überall auf der Welt sehr stark gefährdet ist. Früher mochte man ihn für selbstverständlich halten, doch heute müssen seine Tugenden aufs Neue klar dargelegt und hervorgehoben werden.
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Francis Fukuyama kommt am 27. Oktober 1952 als einziges Kind japanischer Einwanderer in Chicago (USA) zur Welt. Sein Vater amtet als protestantischer Pfarrer, seine Mutter ist die Tochter des Gründers der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Kyoto (Japan). Fukuyama studiert zunächst politische Philosophie und entwickelt während der Studentenproteste 1968 seine konservative Haltung. 1981 erlangt er in Harvard die Doktorwürde für Politikwissenschaft. Er arbeitet für die US-Präsidenten Ronald Reagan sowie George W. Bush und ist seit 2010 an der Stanford University. In seinem epochalen Werk «Das Ende der Geschichte» (1992) prophezeit er das Ende totalitärer Regime. Fukuyama ist verheiratet mit Laura Holmgren. Gemeinsam haben sie drei Kinder.
Francis Fukuyama kommt am 27. Oktober 1952 als einziges Kind japanischer Einwanderer in Chicago (USA) zur Welt. Sein Vater amtet als protestantischer Pfarrer, seine Mutter ist die Tochter des Gründers der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Kyoto (Japan). Fukuyama studiert zunächst politische Philosophie und entwickelt während der Studentenproteste 1968 seine konservative Haltung. 1981 erlangt er in Harvard die Doktorwürde für Politikwissenschaft. Er arbeitet für die US-Präsidenten Ronald Reagan sowie George W. Bush und ist seit 2010 an der Stanford University. In seinem epochalen Werk «Das Ende der Geschichte» (1992) prophezeit er das Ende totalitärer Regime. Fukuyama ist verheiratet mit Laura Holmgren. Gemeinsam haben sie drei Kinder.
Es ist offenkundig, dass sich der Liberalismus seit mehreren Jahren auf dem Rückzug befindet. Der Nichtregierungsorganisation Freedom House zufolge gewannen politische Rechte und bürgerliche Freiheiten in den drei Jahrzehnten zwischen 1974 und den frühen 2000er-Jahren weltweit an Bedeutung. In den darauffolgenden rund 15 Jahren bis 2021 nahm ihre Bedeutung jedoch stetig wieder ab – ein Prozess, der als demokratische Rezession oder Regression bezeichnet wird.
In den etablierten liberalen Demokratien sind es vor allem die liberalen Institutionen, die unmittelbar angegriffen werden. Politische Führer wie Viktor Orbán in Ungarn, Jarosław Kaczyński in Polen, Jair Bolsonaro in Brasilien, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei und Donald Trump in den Vereinigten Staaten wurden alle legitim gewählt, benutzten aber ihr Wählermandat schon bei erster Gelegenheit dazu, liberale Institutionen zu attackieren. Dazu gehörten die Gerichte und das Rechtssystem, überparteiliche staatliche Behörden, unabhängige Medien und andere Körperschaften, die im Rahmen des Systems der Gewaltenteilung die Macht der Exekutive begrenzen. Orbán war sehr erfolgreich darin, die Gerichte mit seinen Gefolgsleuten zu beschicken und den grössten Teil der ungarischen Medien unter die Kontrolle seiner Unterstützer zu bringen. Trump war weniger erfolgreich mit seinen Versuchen, die Intelligenzia oder Institutionen wie das Justizministerium, die Gerichte und die Mainstream-Medien zu schwächen, verfolgte aber ähnliche Absichten.
Der Liberalismus wurde in jüngster Zeit jedoch nicht nur durch rechtsgerichtete Populisten herausgefordert, sondern auch von der wiederauflebenden progressiven Linken. Die Kritik von dieser Seite beruht auf dem – an sich korrekten – Vorwurf, die liberalen Gesellschaften würden ihren eigenen Idealen hinsichtlich einer gleichen Behandlung aller Gruppen nicht gerecht. Diese Kritik erweiterte sich im Laufe der Zeit zu einem Angriff auf die grundlegenden Prinzipien des Liberalismus als solchen, etwa sein Postulat individueller Rechte statt Gruppenrechten, die Prämisse einer universalen Gleichheit der Menschen, auf der Verfassungen und liberale Rechte gründen, und dem Wert der freien Meinungsäusserung und des wissenschaftlichen Rationalismus als Methoden zur Erfassung der Wahrheit. In der Praxis führt das zu einer Intoleranz gegenüber Sichtweisen, die von der neuen progressiven Orthodoxie abweichen, und zum Einsatz verschiedener Formen sozialer Macht mit dem Ziel, diese Orthodoxie durchzusetzen. Andersdenkende werden aus einflussreichen Positionen gedrängt und Bücher werden gewissermassen geächtet, oftmals zwar nicht durch die Regierungen selbst, wohl aber durch mächtige Organisationen, die ihre Verbreitung unter Kontrolle halten.
Populisten auf der rechten und Progressive auf der linken Seite des politischen Spektrums sind mit dem heutigen Liberalismus jedoch nicht, wie ich meine, wegen der grundsätzlichen Schwächen der Doktrin unzufrieden. Vielmehr sind sie unglücklich über die Art und Weise, in der sich der Liberalismus im Verlauf der letzten Generationen veränderte. Seit den späten 1970er-Jahren entwickelte sich der ökonomische Liberalismus zu etwas, das heute als Neoliberalismus bezeichnet wird. Der Neoliberalismus verstärkte die ökonomische Ungleichheit auf dramatische Weise und brachte verheerende Finanzkrisen hervor, die in vielen Ländern der Welt den einfachen Menschen viel mehr schadeten als den vermögenden Eliten. Es ist diese Ungleichheit, die den Kern des progressiven Arguments gegen den Liberalismus und des mit ihm zusammenhängenden kapitalistischen Systems ausmacht. Die institutionellen Regeln des Liberalismus schützen die Rechte aller, auch die der bestehenden Eliten, die aber nur ungern Teile ihres Reichtums oder ihrer Macht aufgeben wollen und sich daher dem Marsch hin zu sozialer Gerechtigkeit für marginalisierte Gruppen in den Weg stellen. Der Liberalismus bildet die ideologische Basis der Marktwirtschaft und ist daher nach Auffassung vieler intensiv mitverantwortlich für die Ungleichheiten, die vom Kapitalismus verursacht werden. Viele ungeduldige Aktivisten der Generation Z (auch Gen Z oder Post-Millennials genannt) in Amerika und Europa betrachten den Liberalismus als eine ausser Mode gekommene Sichtweise der Babyboomer-Generation, als ein «System», das unfähig sei, sich selbst zu reformieren.
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Die Unzufriedenheit mit der Entwicklung des Liberalismus in den letzten Jahrzehnten führt zu Forderungen sowohl von der Rechten als auch von der Linken, dass die liberale Doktrin mit Stumpf und Stiel ausgerottet und durch ein anderes System ersetzt werden müsse. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums gibt es Bemühungen, das Wahlsystem in den Vereinigten Staaten so zu manipulieren, dass die konservativen Kräfte an der Macht bleiben können, ungeachtet anderslautender demokratischer Wahlentscheidungen; andere flirten als Reaktion auf die von ihnen wahrgenommene Bedrohung mit Gewaltbereitschaft und autoritärer Herrschaft. Von der Linken kommen Forderungen nach einer massiven Umverteilung von Wohlstand und Macht und einer Anerkennung von Gruppen anstelle des Individuums auf der Grundlage unveränderlicher Eigenschaften dieser Gruppen wie ethnische Herkunft oder Geschlecht; ferner werden politische Massnahmen gefordert, um die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen auszugleichen. Da wahrscheinlich nichts davon auf der Basis eines breiten gesellschaftlichen Konsenses passieren wird, begnügen sich die Progressiven weiterhin damit, ihre Agenda mithilfe der Gerichte, staatlicher Behörden und ihrer beträchtlichen sozialen und kulturellen Macht voranzubringen.
Diese Bedrohungen des Liberalismus sind nicht symmetrisch. Die von der Rechten ausgehende Gefahr wirkt unmittelbarer und ist politischer Natur; die von der Linken kommende Gefährdung ist hauptsächlich kultureller Art und wirkt daher langsamer. Beide Strömungen werden von einem Unbehagen am Liberalismus angetrieben, das nichts mit dem Wesen der Doktrin an sich zu tun hat, sondern mit der Art und Weise, in der gewisse grundsätzlich vernünftige liberale Ideen interpretiert und ins Extrem getrieben werden. Die Antwort auf dieses Unbehagen lautet nicht, den Liberalismus als solchen gänzlich aufzugeben, sondern ihn zu mässigen.
Francis Fukuyama, «Der Liberalismus und seine Feinde», Hoffmann und Campe; das Buch erscheint am 4. Oktober