Amerika gibt den Takt vor. Das gilt bekanntlich für die Sicherheitspolitik, die Wirtschaft und – wie uns das Credit-Suisse-Drama wieder einmal in Erinnerung ruft – für den Finanzplatz sowieso. Das gilt aber auch für die Kultur.
Das literarische Grossereignis des noch jungen Jahres hat auf der anderen Seite des Atlantiks stattgefunden. Kultschriftsteller Bret Easton Ellis (59) verfasste mit «The Shards» (dt. Scherben) einen Roman, der mit seiner Wucht jeden vereinnahmt, der sich darauf einlässt.
Die fiktive Autobiografie spielt 1981 in Los Angeles, wo der 17-jährige Bret eine elitäre Privatschule besucht. Die Kinder der Haute Volée fahren teure Sportwagen und frönen unter der kalifornischen Sonne einem Luxusleben zwischen Schule, Partys und ihren Villen mit Hausangestellten und Pool.
«Hate Speech» bereits vor dem Internet
Bis ein geheimnisvoller Junge in die Klasse wechselt. Er heisst Robert Mallory und beschert dem Protagonisten einen Cocktail aus Argwohn, Furcht und homophiler Anziehung: «Ein Typ in meinem Alter, so umwerfend gutaussehend, dass ich ihn zuerst für einen Filmstar oder ein Model aus der GQ hielt, der Gegenstand meiner sexuellen Fantasien geworden war.»
Trotz aller jugendlichen Geilheit steigert sich der Ich-Erzähler immer mehr in die Überzeugung hinein, dass es sich bei dem Neuen um den Serienkiller mit dem Übernamen «The Trawler» handeln muss, der L. A. zu jener Zeit in Angst und Schrecken versetzt.
Zugleich rückt der Verdächtige langsam, aber stetig in Brets innersten Freundeskreis vor. Die Beschreibung dieser Ohnmacht vor dem ungewollten Herannahen eines Menschen – und vor dem unausweichlichen Zusammenprall mit ihm – ist grosse Psychologie. Die Allmacht des Eros wird nur vom Hass gebrochen, den die Charaktere entwickeln. «Hate Speech» gabs schon vor dem Internet.
Das Ende aller Gewissheiten
So spielt sich zwischen Mulholland Drive und Ventura Boulevard die Geschichte eines Besessenen ab, der den Beau am liebsten gleichzeitig vernaschen, überführen und beseitigen will – und mit seiner Obsession zu einer Art modernem Captain Ahab mutiert.
Obwohl «The Shards» zeitlich am Beginn der Reagan-Jahre angesiedelt ist, als die Leute noch Telefone mit Wählscheibe hatten und die Kinosäle füllten, ist die Story von einer schrillen Aktualität, zumal der Autor ein Phänomen vorwegnimmt, das seit dem politischen Aufstieg von Donald Trump (76) und der Karriere des Begriffs «Fake News» zum allgegenwärtigen Thema geworden ist: das Ende aller Gewissheiten, die schwindende Grenze zwischen Wahrheit und Wahn.
Das «postfaktische Zeitalter», wie man es auf Intellektuellendeutsch nennt, macht sich zum Beispiel darin bemerkbar, dass Trump nach seiner Abwahl als US-Präsident einen monumentalen Stimmenklau erfindet – und Millionen Menschen es ihm glauben. Nun muss er sich wegen einer vergleichsweise läppischen Angelegenheit – mutmassliche Schweigegeldzahlungen an eine Pornodarstellerin – vor einem New Yorker Gericht verantworten. Was er für einen grossen Auftritt nutzt, bei dem er seine Lüge vom Wahlbetrug wiederholen kann.
Zugedröhnt durch die Welt
Vor diesem Hintergrund hat Ellis vielleicht seinen amerikanischsten Roman vorgelegt – Irreführung und Falschheit durchdringen den ganzen Plot: Der Protagonist ist schwul und treibts mit einem dauerbekifften Kommilitonen, verheimlicht dies aber seiner Freundin Debby, der Tochter eines schwerreichen Hollywood-Produzenten. Auch der ist eigentlich Männern zugeneigt, nach aussen allerdings lebt er eine Glamour-Ehe mit seiner Frau vor, die ihrerseits eine Alkoholkrankheit verheimlicht.
Der Teenager verschönt sich die Welt mit Tranquilizern, weil er sie sonst gar nicht aushalten würde, Debby verschafft sich mit Kokain ein wenig synthetische Euphorie, deren beste Freundin Susan betrügt ihren Macker mit Robert. Die Figuren sind blutjung und doch schon hochgradig kaputt – ein Verweis auf den destruktiven heutigen Jugendwahn.
Und der Leser bleibt im Ungewissen: Wie gefährlich ist dieser schöne Robert wirklich? Ist er tatsächlich der Killer? Indizien gibt es. Oder geht man da einem paranoiden Erzähler auf den Leim? Wer ist der Spinner in dieser Tragödie? Die Figuren in «The Shards» flüchten sich in ein falsches Leben; Realität wird Ansichtssache, sie verschwimmt zum Vexierbild.
Mutterland der Fake News auf der Couch
So schlägt Bret Easton Ellis mit feiner Treffsicherheit eine Brücke in unsere Gegenwart. Die steht im Bann der künstlichen Intelligenz (KI), deren Entwicklung gerade im Eiltempo davongaloppiert. Letzte Woche kursierten gefakte Fotos von Papst Franziskus im Rapperlook einer glänzend weissen Daunenjacke, auf die sogar renommierte Nachrichtenagenturen reinfielen. Tech-Grössen wie Elon Musk (51) fordern aus Hilflosigkeit ein KI-Moratorium.
Und versuchen nicht sowieso alle mit falschen Fassaden aufzutrumpfen? In den sozialen Medien gehört die Intransparenz mittlerweile zur täglichen Pest. Auch Wirtschaft und Politik sind kontaminiert: Dass das «Suisse» im Namen der CS schon lange eine Farce war, ist inzwischen ein offenes Geheimnis. Und handelt es sich bei den Klimaseniorinnen, die in Strassburg (F) gegen die Schweiz klagen, tatsächlich um eine Graswurzelbewegung besorgter Bürgerinnen, wie diese uns weismachen wollen, oder eher um das Produkt einer hochprofessionellen PR-Maschinerie von Greenpeace? Täuschen, tarnen, tricksen allenthalben.
Nach seinem Bestseller «American Psycho» von 1991 legt Ellis mit seinem neuen Thriller das Mutterland der Fake News erneut meisterhaft auf die Couch. Der Patient scheint die Therapie bitter nötig zu haben.