Auf einen Blick
- Letzte Bundestagssitzung vor Neuwahlen: Abrechnung für Kanzler Scholz
- Möglicher Migrationspakt der Mitte und Streichung des Abtreibungsparagrafen
- Blick zeigt Debatte live
Ein Ende im Streit
Die Sitzung ist beendet. Tief zerstritten hat sich der Bundestag in Deutschland knapp zwei Wochen vor der vorgezogenen Neuwahl mit einer letzten Debatte über die Lage in Europas grösster Volkswirtschaft verabschiedet.
Vor allem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und sein aussichtsreichster Herausforderer Friedrich Merz von der CDU/CSU lieferten sich erneut einen harten Schlagabtausch über Migration, den Kurs in der Wirtschaftspolitik und den Umgang mit der rechtspopulistischen AfD.
Scholz warf Merz vor, mit seinen Migrationsplänen die europäische Integration zu gefährden. «Friedrich Merz tritt an, Europa zu Grabe zu tragen», sagte er. Damit stelle er auch das «stolze Erbe» der früheren CDU-Kanzler Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel infrage. Erneut warf er Merz eine Annäherung an die rechte AfD vor.
Merz wies das als gezielte Angstmacherei zurück. «Es kommt eine Zusammenarbeit von uns mit der AfD nicht infrage», versicherte er. Dem Kanzler warf er vor, einen «Popanz» aufzubauen – gemeint sei damit eine Kunstfigur, mit der man versuche, Menschen Angst zu machen.
Der erbitterte Schlagabtausch der beiden Kanzlerkandidaten bestimmte die letzte Debatte des 20. Bundestags, der sich nach dem Bruch der Ampel-Koalition im November etwa sieben Monate früher auflöst als geplant. Spätestens 30 Tage nach der Wahl am 23. Februar wird er vom 21. Bundestag abgelöst, der dann deutlich kleiner sein wird. Das neue, von der Ampel-Koalition beschlossene Wahlrecht begrenzt die Grösse auf 630 Abgeordnete. Bei der Wahl 2021 waren noch 736 Abgeordnete in den Bundestag eingezogen.
Nach den aktuellen Umfragen hat die Union mit Werten zwischen 28 und 34 Prozent beste Chancen, stärkste Kraft zu werden. Dahinter folgt die AfD mit 20 bis 22 Prozent. Die Kanzlerpartei SPD stagniert bei 15 bis 18 Prozent abgeschlagen auf Platz drei.
Wagenknecht macht sich über Scholz lustig
Sahra Wagenknecht vom BSW sagt sarkastisch über Scholz: «Sie sind ein Kanzler des Aufschwungs. Des Aufschwungs der AfD.» Es sei aberwitzig, wenn man zwei Wochen lang in Deutschland über eine Abstimmung diskutiere, die dank der Stimmen der AfD gewonnen worden ist, und gleichzeitig die Nato vor einem Krieg in Europa warne.
CSU-Fraktionschef: «AfD wächst wegen Ihnen!»
CSU-Fraktionschef Alexander Dobrindt schimpft über die «Arroganz-Ampel» und knüpft sich den SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich vor: «Lieber Kollege Mützenich, auch Sie betonen hier ständig, dass Sie etwas gegen die AfD unternehmen wollen. Ich glaube Ihnen das ausdrücklich. Aber die Verdoppelung der AfD in den Umfragen ist doch das Werk genau Ihrer Politik!»
Er mokiert sich über die Energiewende. Weil Deutschland AKW abgestellt habe, müsse man nun Atomstrom aus dem Ausland beziehen. «Mit Ihrer Energiepolitik machen Sie uns europaweit zum Gespött.»
Dobrindt: «Wir wollen nicht das Land verändern, nicht die Menschen. Wir wollen die Politik verändern. Und darum geht es am 23. Februar.»
SPD-Chef Klingbeil schiesst scharf
SPD-Chef Lars Klingbeil greift zum Zweihänder gegen Merz. «Herr Merz, was war das hier für eine überhebliche und kleinkarierte Rede, die Sie im Bundestag gehalten haben. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als unser Land im Sound der AfD schlecht zu machen.»
Er ist der Mann, der bisher am schärfsten schiesst. Merz erinnere ihn an diesen Onkel, der bei Familienbesuchen immer meckernd, alles besser wissend und mit verschränkten Armen in der Ecke sitze. «Solche Leute werden einsam und haben am Schluss nur noch Freunde in der AfD.»
Die Frage sei, wieviel Wert Merz’ Wort überhaupt noch habe. Und er sagt, wie wichtig Kompromisse seien.
Weidel streckt Hand für alle aus
Ein gut funktionierendes Deutschland hätte eine eigene starke Währung und Zentralbank. Steuergelder würden nicht verschleudert, auch nicht in sinnlose Projekte in andern Ländern. «Wir haben die höchsten Energiepreise, weil Sie die funktionierende Energieinfrastruktur zerstört haben.»
Und wieder regt sie sich über Zwischenrufe auf. Mit gequältem Lächeln sagt sie: «Sie können sich nicht benehmen. Sie werden vom Wähler abgestraft, Sie werden in Zukunft nicht mehr hier sitzen.»
Deutschland würde als ehrliche Makler für den Frieden eintreten und keinen Krieg zulassen. «Unsere Hand ist ausgestreckt für alle, die mit uns ein gut funktionierendes Deutschland realisieren wollen.»
AfD-Weidel regt sich auf
Alice Weidel, Kanzlerkandidatin der AfD, sagt: «Die Bürger haben genug von links-grünen Sektierern, die in der Regierung sassen.» Auch Merz wirft sie vor, schon gescheitert zu sein. «Wir werden nicht zulassen, dass das von Ihrer Frau Merkel aufgegleiste Zerstörungswerk fortgesetzt wird.» Die notwendigen Reformen könnten nicht verhindert werden. Diese Wende sei nur mit der AfD möglich.
Sie regt sich über das «Geifern» der Linken auf und bittet die Ratspräsidentin, für Ruhe zu versorgen. Diese Leute hätten hier nichts zu suchen. «Gehen Sie arbeiten, Sie haben ja bald Zeit dazu, wenn Sie abgewählt sind.»
Die AfD in der Regierung? «Wir hätten gesicherte Grenzen und Schutz gegen die Kriminalität. Wir würden der illegalen Immigration den Riegel schieben und nur Leute hereinlassen, die es dürfen.»
Sie fordert die direkte Demokratie und eine breite Medienvielfalt. Die Rundfunkgebühren würden abgeschafft.
Handeln, sonst suchen die Wähler «Alternativen»
Lindner ist für Klimaschutz, aber nicht auf die so schnelle Tour und mit Verboten, wie es die Ampelregierung wollte. Vielmehr sollen neue Technologien die Erderwärmung bremsen. Zur AfD, die nicht an die Klimaveränderung glaubt, sagt er: «Gehen Sie mal in den deutschen Wald und sehen Sie, wie es um das Klima steht.»
Der linken Ratshälfte wirft er Zügellosigkeit bei den Ausgaben vor. «Wir haben keinen Mangel an öffentlichen Mitteln, aber wir haben einen Mangel an Mut für den richtigen Umgang damit.»
Lindner: «Wenn die Demokratie in den nächsten vier Jahren nicht liefert, könnten sich die Menschen wie in den USA, wie in Österreich, wie in den Niederlanden ‹Alternativen› suchen.» Vieles im Land müsse sich ändern.
Lindner spottet: «Nobelpreis für Scholz»
Christian Lindner, Chef der FDP, war Finanzminister in der Ampelregierung, bis ihn Kanzler Scholz entliess. «Es ist erschreckend, dass Scholz und Habeck das Land alleine regieren konnten.» Und er fragt sich: «Was macht eigentlich Robert Habeck beruflich?» Bei wichtigen Sitzungen habe er gefehlt.
Zu Scholz sagt er: «Der bereitet sich darauf vor, der zweite Nobelpreisträger aus den Reihen der SPD zu sein. Willy Brandt bekam den für den Frieden, Olaf Scholz den für Physik, denn er hat den endgültigen Beweis erbracht, dass es Paralleluniversen gibt.» Damit meinte er: Scholz lebe in seiner eigenen Welt, fernab der Probleme der Bürger im Land.
Ingenieure und Techniker müssten unserer Wirtschaft die Richtung vorgeben, und nicht die Politiker, die von diesem Thema keine Ahnung hätten.
Habeck will wieder Klima ins Zentrum rücken
Nun spricht Robert Habeck, Wirtschaftsminister und Kanzlerkandidat der Grünen. «Beim Duell Scholz und Merz fehlte etwas: die Zukunft.» Das grosse Thema sei der Schutz des Klimas. «Sie müssen nicht grün wählen, aber verkennen Sie nicht, welches Gewicht dieses Thema für die junge Generation hat.»
Es sei ein Schlag, wenn die USA sich nicht mehr an die Ziele halten, das sei aber für ein paar Jahre verkraftbar. Aber für das Vorbild Deutschland liege es nicht drin, von den verabredeten Zielen abzuweichen. «Warum schafft es die deutsche Automobilindustrie nicht, umweltfreundliche Autos auf den Markt zu bringen?» Inzwischen sei ein amerikanischer Konzern, der Elektroautos produziere, zum wertvollsten Autokonzern herangewachsen. Den Namen von Musks Firma Tesla nennt er nicht. Musk hatte für die AfD Werbung gemacht. Man dürfe sich nicht abhängig machen von den Amerikanern und Chinesen. «Wir brauchen Mut für die Zukunft.»
Geschwiegen hätten seine Vorredner auch über die Bildung. Hier bedürfe es Investitionen von 55 Milliarden Euro. Er kritisiert, dass die Union das günstige 49-Euro-Bahnticket abschaffen und dafür die Reichen bei den Steuern entlasten wolle.
Merz warnt vor Anwachsen der AfD
Merz appelliert an die Verantwortung der SPD: «Wir werden eine Regierung brauchen und eine parlamentarische Mehrheit, um die Herausforderungen zu bewältigen. Wenn das nicht gelingt, werden die Rechtspopulisten vielleicht mal die Mehrheit haben.»
Am Dienstagmorgen trifft sich der Deutsche Bundestag zu seiner wohl letzten Sitzung vor den Neuwahlen vom 23. Februar. Jede Partei wird rückblickend ihre Arbeit rühmen und den anderen auf den Deckel geben – und das in deutscher Manier.
Die «Vereinbarte Debatte» wird auch zu einer Abrechnung mit Kanzler Olaf Scholz (66), der am 23. Februar höchstwahrscheinlich abgewählt wird und CDU-Chef Friedrich Merz (69) Platz machen muss.
Über den Ablauf der Sitzung wird vermutlich erst kurz vor Beginn der Debatte informiert. Vorgesehen ist aber, dass Scholz eine Rede zur Lage der Nation halten wird. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass die FDP zusammen mit CDU/CSU, SPD und den Grünen einen «Migrationspakt der Mitte» anstreben will. Weiter könnte die SPD – so lange sie noch am Drücker ist – die Streichung des Abtreibungsparagrafen beantragen. Dieser stellt Schwangerschaftsabbrüche seit 1871 grundsätzlich unter Strafe.
Deutschland in der Krise
Eine «Vereinbarte Debatte» kann verlangt werden, wenn wichtige oder aussergewöhnliche Themen anstehen. Am Dienstag geht es um die «Situation in Deutschland». Und die ist so miserabel wie schon lange nicht mehr: Bedrohung von aussen, Energiekrise, Armut, Massenentlassungen, massive Einwanderung und eine zerstrittene Regierung ziehen das Land in die Misere.
Falls während der Debatte zu einem bestimmten Thema nicht noch eine Sondersitzung vor den Wahlen verlangt wird, dürfte dies die letzte Bundestagssitzung unter der zerbrochenen Ampel sein. Blick.ch zeigt die Debatte live und liefert Analysen und einen Stimmungsbericht aus Berlin.