Verzweifelte Menschen auf Dächern, tote Tiere im Zoo, laufend explodierende Minen: Der geborstene Staudamm in Nowa Kachowka im Süden der Ukraine sorgt für enormes Leid. Nach ukrainischen Angaben standen bis Donnerstag 600 Quadratkilometer unter Wasser, darunter 32 Prozent auf von Kiew kontrolliertem Gebiet und 68 Prozent auf von Moskau besetztem Territorium.
Besonders betroffen ist die 46'000 zählende Stadt Nowa Kachowka. Hier steht der Damm, der am Dienstag zerstört worden war. War es ein Anschlag oder ein Ermüdungsbruch? Die Ursache ist unklar, ebenso, wer dafür verantwortlich ist.
Nowa Kachowka ist auch die Stadt, in die die Ukrainerin Julia* (44) gezogen war, als die Besatzer kamen. Sie wollte ihre da lebenden Eltern nicht im Stich lassen. Nun sitzt Julias Familie fest. Den Besatzern und Fluten zu entrinnen, ist hoffnungslos.
Gegenüber Blick erzählt sie, welches Drama sich nach dem Dammbruch in Nowa Kachowka abspielt. Ihren richtigen Namen will sie nicht preisgeben, zu gross ist die Angst vor Repressionen der Besatzer.
Warten auf den Dächern
«Nach der Sprengung des Dammes erreichte das Wasser die vierte Strasse vom Dnjepr-Ufer aus, ein Drittel der Stadt ist vollständig überflutet. Die Tiere im Märchenwald, das ist unser lokaler Zoo, sind ertrunken. Das Sommerkino steht unter Wasser.
In der ersten Strasse am Ufer suchten Menschen mit eingeschränkter Mobilität nach Rettung, denn niemand von der Besatzerverwaltung half. Kommunikationsmöglichkeiten gibt es nur über russische Mobilfunkbetreiber, sie sind von schlechter Qualität, sehr teuer und fallen oft aus. Wegen der Kommunikationsprobleme wussten viele Menschen zuerst gar nicht, dass der Damm zerstört worden war.
Einigen Menschen ist es gelungen, auf eigene Faust in andere Dörfer zu fliehen, andere sind auf ihre Dächer geklettert und warten da auf ihre Rettung. Es ist beängstigend! Die Menschen wissen nicht, wo ihre Verwandten sind, alle Chats sind voll von Nachrichten über vermisste Personen und Hilfeschreien.»
Der Besatzungschef von Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, sprach am Donnerstagvormittag im russischen Staatsfernsehen von fünf Toten. Ausserdem seien mehr als 40 Menschen verletzt worden. Diese Zahl kann nicht überprüft werden.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) sagte: «Menschen, Tiere sind gestorben. Von den Dächern der überfluteten Häuser sehen Menschen, wie Ertrunkene vorbeitreiben.» Er zeigte sich enttäuscht darüber, dass die Uno und das Rote Kreuz seinem Land nicht helfen würden. Im Einsatz stehen andere Organisationen wie etwa Unicef, Caritas Deutschland und Mission Lifeline International.
Russen waren vorbereitet
«Die Besatzer sagten, sie würden die Leute retten, aber sie haben es nicht eilig, da sie zuerst ihr Eigentum in Sicherheit bringen wollen. Die Besatzer lassen die Leute bei den Kontrollpunkten nicht passieren. Freiwillige Helfer dürfen die Dörfer nicht betreten, sodass niemand sehen kann, was das Militär abtransportiert und wohin sie ihre Ausrüstung bringen.
Am Dienstagabend kündigten die Besatzer einen Evakuierungsbus an, der am Mittwoch um zehn Uhr beim Spital sein würde. Er war wirklich da, aber es gab keine Leute. Denn wie sollen sie von den Dächern in den Dörfern in die Stadt zum Bus kommen? Etwa per Flugzeug?
Am Vortag des Dammbruchs hatten sich die Besatzer seltsam verhalten und sich in Gebiete zurückgezogen, die weiter von der Küste entfernt liegt. Jetzt weiss ich, warum.»
Die Ukraine beschuldigt die Invasoren, den Damm mit Absicht gesprengt zu haben, um die angelaufene Gegenoffensive zu stoppen. Die Russen ihrerseits schieben den Ukrainern die Schuld in die Schuhe. Experten des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) in Washington gehen angesichts der Beweise und der Argumente davon aus, dass Russland den Staudamm absichtlich zerstört hat.
Viele Minen explodierten
«Aus den Hähnen fliesst schmutziges Wasser. Das Wasser hat viel Dreck angeschwemmt, Leute sammeln tote Fische ein. Auch Minen wurden weggespült. Am Dienstag explodierten während des ganzen Tages Minen, die die Besatzer am Ufer gelegt hatten. Es war sehr laut.
Wir befürchten, dass es wegen der Überschwemmung zu Trinkwassermangel, Kommunikationsproblemen und Hunger kommen wird. Und auch, dass die Fische infiziert sind und die Friedhöfe überflutet werden. Die höher gelegenen Felder und Sommergärten, die nicht überflutet sind, können nicht mehr bewässert werden, weil das Wasser aus dem Nord-Krim-Kanal entnommen wurde und jetzt in den Dnjepr fliesst. Es wird keine Ernte geben, was das Problem mit den Lebensmitteln weiter verschärfen wird.»
Der Dammbruch ist eine Tragödie mit langer Wirkung. Wegen fehlenden Wassers oberhalb des Staudamms werden grosse Ernteausfälle erwartet. Das abfliessende Wasser selber ist kontaminiert. Es ist voll von Schadstoffen wie Maschinenöl, Chemikalien, Kadavern, Fäkalien und scharfen Minen. Rund 40'000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen.
Zwang zum russischen Pass
«Wir befürchten, dass die Gegenoffensive jetzt viel komplizierter und sich lange hinauszögern wird und die Besatzer ihren Würgegriff weiter verstärken werden. Die Menschen können nicht behandelt werden, weil die Spitäler geschlossen sind und auf der Krim nur jene behandelt werden, die einen russischen Pass haben.
Die Menschen werden bedroht, wenn sie keinen Pass bekommen. Sie sind verpflichtet, bis zum 1. September einen russischen Pass zu besorgen. Wenn wir bis zu diesem Datum nicht befreit werden, wird es schwierig für uns zu überleben.»
Der russische Besatzungschef im südukrainischen Gebiet Cherson, Wladimir Saldo, bestätigte, dass die eigene Armee aus der Zerstörung des Staudamms einen militärischen Vorteil gezogen hat. «Sie können nichts machen», so seine Sicht auf die ukrainischen Truppen, die eine Gegenoffensive zur Befreiung der besetzten Gebiete planen.
Wolodimir Selenski will sich wegen der Katastrophe in seinen Offensivplänen aber nicht aufhalten lassen. Er versprach: «Die von russischen Terroristen verursachte Katastrophe im Wasserkraftwerk Kachowka wird die Ukraine und die Ukrainer nicht aufhalten. Wir werden trotzdem unser gesamtes Land befreien.»
* Name geändert und der Redaktion bekannt