Panzer, Bomben und nun auch noch eine gigantische Flutwelle: Der Krieg in der Ukraine hat eine neue Dimension erreicht. Nach einer schweren Explosion am Staudamm bei Nowa Kachowka strömen Milliarden von Litern Wasser den Dnipro abwärts Richtung Schwarzes Meer. Nebst der Stadt Cherson sind rund 80 weitere Ortschaften von drohendem Hochwasser betroffen.
Kiew und Moskau machen sich gegenseitig für die Sprengung des Damms verantwortlich. Spekuliert wird aber auch, dass der Damm aufgrund schlechter Wartung gebrochen sein könnte.
Die Überflutung ist nur eine der schlimmen Folgen. Denn der See – der knapp fünfmal die Wassermassen des viel tieferen Zürichsees fasst – versorgt eine grosse Region mit Trinkwasser, Wasser zur Bewässerung von Obst, Reis und Wein sowie anderen landwirtschaftlichen Produkten. Er ist wichtig für die Fischerei und die Schifffahrt. Zudem liefert er Wasser für das inzwischen zerstörte Wasserkraftwerk und Kühlwasser für das Atomkraftwerk in Saporischschja.
Neutrale Beobachter gehen davon aus, dass Russland den Dammbruch zu verantworten hat. So sagt Gerhard Mangott (56), Russland- und Sicherheitsexperte an der Uni Innsbruck (A), gegenüber Blick: «Die Absicht könnte sein, einen Vorstoss der Ukrainer über den Dnipro über Wochen zu verhindern.» Damit könnten die Russen ihre Verteidigungslinie an dieser Stelle zurückfahren und sich auf andere Angriffsorte der ukrainischen Gegenoffensive konzentrieren.
Notstand bei den Russen
Mit einer Sprengung des Damms hätten sich die Russen aber ins eigene Knie geschossen. Denn die Überflutung betrifft die von den Russen besetzte südliche Seite des Flusses ebenso, wenn nicht noch stärker. Laut dem von Russland eingesetzten Bürgermeister Wladimir Leontjew von Nowa Kachowka waren in den ersten Stunden nach dem Dammbruch 600 Häuser in drei Ortschaften betroffen. Die russischen Besatzer haben den Notstand ausgerufen.
Auch dürfte sich die Zerstörung des Damms auf die Trinkwasserversorgung in den besetzten Gebieten – insbesondere der wasserarmen Krim – auswirken. Bis 2014 lieferte der Kachowka-Stausee 85 Prozent des Wassers über den 400 Kilometer langen Nord-Krim-Kanal für die Halbinsel.
Nach der Annexion der Krim erstellten die Ukrainer am Kanal einen Damm, um die Halbinsel vom Wasser abzuschneiden. Kurz nach Beginn der Invasion 2022 aber sprengten die Russen diese Wasserbarriere.
«Die Halbinsel Krim könnte für viele Jahre ohne Wasserversorgung sein», sagte Mykhailo Podolyak (51) vom ukrainischen Präsidentenbüro gegenüber CNN. Er nannte den Vorfall eine «globale ökologische Katastrophe». Verschiedene Tiere und Ökosysteme würden in den nächsten Stunden gefährdet. Auch Bürgermeister Wladimir Leontjew gestand im russischen Staatsfernsehen ein, dass es nun auf der Krim zu Problemen mit der Wasserversorgung kommen könnte.
Angst vor Nuklearkatastrophe
Zum Problem dürfte auch die Kühlung des Atomkraftwerk Saporischschja werden, das von den Russen besetzt wird. Eine Unterbrechung der Wasserversorgung würde das Kühlsystem beeinträchtigen. Im Extremfall droht ein atomarer Unfall. Am Dienstag aber twitterte die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA), dass «kein unmittelbares Risiko für die nukleare Sicherheit des Kernkraftwerks» bestehe.
Der deutsche Kanzler Olaf Scholz (64) nannte den Anschlag «eine neue Dimension» im Krieg. EU-Ratspräsident Charles Michel (47) spricht von einem «Kriegsverbrechen». Und Nato-Chef Jens Stoltenberg (64) bilanzierte: «Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert.»