Video zeigt Explosion bei Kachowka-Damm
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Mutmassliche Sabotage:Video zeigt Explosion bei Kachowka-Damm

Wer hätte welche Motive? Beide Kriegsparteien beschuldigen sich gegenseitig
Kachowka-Dammbruch nützt eher dem russischen als dem ukrainischen Militär

Wer ist für das Desaster der Kachowka-Dammzerstörung verantwortlich? Kiew und Moskau schieben einander die Schuld zu. Die mutmassliche Sabotage könnte die Kriegsstrategie der Ukraine ändern. Der zerstörte Damm erschwert Pläne zu Vorstössen gegen Osten ernsthaft.
Publiziert: 07.06.2023 um 01:13 Uhr
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Aktualisiert: 07.06.2023 um 07:54 Uhr
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Ein russischer Soldat beim zerstörten Kachowka-Staudamm. Moskau beschuldigt die Ukraine der Sabotage. Kiew beschuldigt im Gegenzug die Russen.
Foto: IMAGO/ITAR-TASS/ Sipa USA
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Daniel KestenholzRedaktor Nachtdienst

Gegenseitige Schuldzuweisungen ohne klare Beweise: Die Wahrheit ist wieder das erste Opfer von Krieg. Kiew und Moskau machen einander für die Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Nacht auf Dienstag verantwortlich. Dabei hat Russland ein grosses Problem weniger – und die Ukraine einige Probleme mehr.

Kiew und Moskau schieben sich auch in einer Dringlichkeitssitzung des Uno-Sicherheitsrates gegenseitig die Schuld zu. Der ukrainische Uno-Botschafter Serhij Kislizia (53) sprach am Dienstag bei einer kurzfristig einberufenen Notsitzung in New York von einem «Akt des ökologischen und technologischen Terrorismus». Die Sprengung sei «ein weiteres Beispiel für den Völkermord Russlands an den Ukrainern».

Der russische Uno-Botschafter Wassili Nebensja (61) konterte, dass der Vorfall auf «vorsätzliche Sabotage Kiews» zurückzuführen und wie ein Kriegsverbrechen einzuordnen sei. Der Staudamm sei für ein «unvorstellbares Verbrechen» benutzt worden.

Nord-Stream-Parallelen

Parallelen zu Nord Stream fallen auf. Ähnlich verworren bleibt die Schuldfrage bei den Pipeline-Sprengungen Ende September 2022 unter der Ostsee. Wer war verantwortlich? Laut einem neuen Investigativbericht der «Washington Post» führen Spuren in die Ukraine. Der CIA habe bereits im Juni 2022 und damit drei Monate vor den mutmasslichen Sprengungen von einem ukrainischen Plan für einen solchen Anschlag erfahren.

Sabotierter Kachowka-Damm: Wer hätte welche Motive? Wem würde die Überflutung weiter Gebiete im Krieg eher nützen? Die Ukraine kontrolliert das westliche Ufer des Dnjepr, Russland das östliche, das vielerorts etwas tiefer liegt als das westliche und daher noch grössere Überflutungen erleiden dürfte.

Doch Russlands Soldaten, Kommandanten und Kriegsblogger sind angesichts der bevorstehenden Grossoffensive schon so übermässig nervös. Ein Sabotageakt riesigen Ausmasses, der auch die Zivilbevölkerung nicht verschont, könnte ein Zeichen der Verzweiflung sein: die anrollende Gegenoffensive der Ukraine aufhalten, koste es, was es wolle. Eine Abwägung aller Faktoren lässt darauf schliessen, dass die Russen die Staumauer als Waffe benutzen könnten.

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Veränderte Geografie

Die grösseren Profiteure des Desasters sind klar die russischen Invasionstruppen. Für die Ukraine erschwert der zerstörte Damm die geplante Gegenoffensive aus zwei Hauptgründen erheblich: Die Strasse, die über den Staudamm führte, war die einzige noch intakte Brücke über den Dnjepr zwischen Saporischschja und dem Meer mit anliegender Krim, auf deren Rückeroberung die Ukraine grosse Hoffnungen setzt.

Wäre der Damm unversehrt in ukrainische Hände gefallen, hätte er als Brückenkopf für Vorstösse gegen Osten genutzt werden können, wenn auch unter grossen Risiken. Das ist jetzt nicht mehr möglich.

Der zweite und weitaus schwerwiegendere Rückschlag für Kiew: Das weite Gebiete überflutende Hochwasser wird die Geografie des unteren Dnjepr-Mündungsgebiets dramatisch verändern. Oberhalb des Dammes war der Fluss gebietsweise kilometerweit. Flussabwärts verengte er sich auf nur wenige hundert Meter. In diesen Gebieten wäre ein möglicher amphibischer Angriff am ehesten durchführbar gewesen.

Pufferzone und Spiel auf Zeit

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) sagte am späten Dienstag: «Die von russischen Terroristen verursachte Katastrophe im Wasserkraftwerk Kachowska wird die Ukraine und die Ukrainer nicht aufhalten.» Dennoch wirkt der Dnjepr jetzt wie eine mächtige natürliche Barriere zwischen Ukraine und russischen Invasoren. Entsprechende ukrainische Angriffspläne werden umso schwieriger. Eine Überquerung des Dnjepr war schon immer hochriskant. Jetzt scheint sie unwahrscheinlich. Der Bruch des Damms nimmt den Ukrainern wichtige Optionen und schafft für die russischen Streitkräfte eine Pufferzone mitsamt Zeitgewinn.

Selenski beschuldigte die Russen bereits im Oktober, eine solche Sabotageaktion zu planen. Auch wenn Kiew Ausweichpläne vorbereitet hat, die Zerstörung des Staudamms und die Überschwemmungen sind keine guten Nachrichten für die Ukraine. Die Wassermassen sichern das russische besetzte Ostufer und erlauben es den Invasoren, sich auf ihre Verteidigung in Saporischschja, im Donbass und entlang der Grenze im Norden zu konzentrieren.

Dabei dürfte das Hochwasser auch zu enormen Schäden am linken Ostufer des Dnjepr führen, das die Russen kontrollieren. Auch eigene Stellungen entlang der Frontlinie werden wohl überflutet und die russischen Streitkräfte zu Rückzügen zwingen.

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