Die Freiheit kostet 8000 Franken
Tschetschenen werden in den Krieg gezwungen

Zahlreiche Tschetschenen werden zwangsverpflichtet, in der Ukraine zu kämpfen. Drohungen und Einschüchterungen sind an der Tagesordnung. Viele sind bereit, in den Krieg zu ziehen, um ihre Familien vor Demütigung und sich selbst vor Knast und Folter zu schützen.
Publiziert: 15.06.2022 um 17:33 Uhr
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Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow rühmt sich damit, dass viele Einheimische der Republik freiwillig in den Krieg ziehen würden.
Foto: imago images/SNA

Wegen Wladimir Putins (69) imperialen Machtgelüsten müssen Tausende russische Soldaten seit bald vier Monaten im Krieg gegen die Ukrainer kämpfen. Alleine aus der Republik Tschetschenien wurden 8000 Mann an die Front geschickt. 1360 von ihnen sind Freiwillige. Das meldete der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow (42), vergangene Woche.

Die Freiwilligen sind ein wichtiger Teil der Eigenwerbung des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow (45). In seinem Post betonte er immer wieder, dass sich die Einwohner beinahe darum reissen würden, an den Kampfhandlungen teilzunehmen. «Sie eilen an die Front, um den Abschaum von Bandera auszurotten», sagt er in seinen Videos. «Die heilige Pflicht, für Russland zu dienen, wurde für sie zu einem mächtigen Konsolidierungsfaktor und hat sie in der Unantastbarkeit der Prinzipien der militärischen Brüderlichkeit bestärkt.»

Zum Töten gezwungen

Doch wie freiwillig die Männer wirklich in den Krieg ziehen, ist fraglich. Menschenrechtsaktivisten weisen seit Wochen auf den Zwangscharakter der Rekrutierung hin. Der Menschenrechtsanwalt Abubakar Jangulbajew (30) sagt zu «The Insider», dass die tschetschenischen Strafverfolgungsbehörden zu den in der Region üblichen repressiven Massnahmen greifen würden. Dazu sollen Entführungen, Drohungen, Erpressungen oder Nötigung durch Folter gehören.

Der oppositionelle tschetschenische Blogger Hasan Chalitow bestätigt gegenüber «The Insider», dass sein Bruder von den örtlichen Ordnungskräften entführt und in die Ukraine gebracht worden sei.

Krieg oder Knast

Der Bruder des Menschenrechtsanwalts Abubakar Jangulbajew, Ibrahim Jangulbajew (27) von der Oppositionsbewegung «1Adat» kennt Fälle, in denen die Entführten vor ein Ultimatum gestellt werden: Entweder man unterschreibt einen Vertrag und fährt in den Krieg, oder man landet wegen eines erfundenen Strafverfahrens im Knast.

Etwa, weil man zu einem Terroristen, der für den IS in Syrien gekämpft hat, erklärt wird. «Das ist eine sehr verbreitete Form von Erpressung. Ich weiss von Fällen, in denen Strafverfahren gegen diejenigen eingeleitet wurden, die sich weigern, in die Ukraine zu gehen. Es geht dann entweder um Terrorismus oder Drogendelikte», sagt der tschetschenische Blogger Islam Belokijew.

8000 Franken, um sich vom Krieg freizukaufen

Der Menschenrechtler Ibrahim Jangulbajew erklärt die Hintergründe. «Die Polizeichefs der einzelnen Bezirke wurden angewiesen, mit allen Mitteln Freiwillige zu holen. Jeder hat eine Liste von ‹Extremisten› – Menschen, die den örtlichen Behörden nicht wohlgesonnen sind. Sie werden zu Gesprächen vorgeladen und mit Strafverfahren bedroht, wenn sie sich weigern. Einigen wird Geld angeboten, um an die Front zu gehen. Sie haben unterschiedliche Methoden. Sie können sanfte Überredungskünste einsetzen. Oder sie entführen und gehen hart vor», hält Jangulbajew fest.

Viele Polizeichefs würden versuchen, aus der Situation selber Profit zu schlagen. «Nachdem eine Person entführt wurde, teilen sie der Familie mit: ‹Ihr Sohn oder Bruder ist schuldig. Entweder fährt er jetzt in die Ukraine, oder wir werden ihn einsperren.›.» Verwandte bieten dann den Behörden Geld an, um das Opfer freizukaufen. Manche Polizeichefs verlangen ein Lösegeld in Höhe von 450'000 Rubel (8000 Franken). Wer nicht über ein derart grosses finanzielles Polster verfügt, hat kaum eine Wahl.

Mindestens 50 Meldungen

Seit Kriegsbeginn werden die Mitarbeiter der tschetschenischen Menschenrechtsorganisation «Vayfond» mit Meldungen über illegale Versuche, Männer in die Ukraine zu schicken, überhäuft. «Es ist für uns schwierig, die genaue Zahl der Personen zu ermitteln, die sich an uns gewandt haben. Viele sind so eingeschüchtert, dass sie ihre Korrespondenz und ihren Account löschen, sobald sie eine Antwort erhalten.»

Ein Mitarbeiter sagt zu «The Insider»: «Anfangs dachten wir nicht, dass das Problem so akut sein würde, und wir haben es nicht speziell gezählt, aber es gibt definitiv bereits ein halbes Hundert Beschwerden.»

Demütigung für muslimische Männer

Die jungen Männer müssen sich nicht nur um ihr eigenes Wohl sorgen, sondern auch um das ihrer Familien. Denn die Eintreiber greifen auch zu ganz perfiden Methoden, die besonders in der muslimisch geprägten Gesellschaft demütigend sind.

«Sie kommen ins Haus und beginnen, die Frau zu belästigen und auszuziehen. Für unsere Mentalität ist es das Schlimmste. Es ist besser, zu sterben, als so gedemütigt zu werden. Man wird danach nicht mehr als Mann betrachtet. Und für die Kadyrowiten ist dies eine gängige Praxis. Folter und Mord sind etwas Normales, Routine», erzählt ein Mitarbeiter von «Vayfond».

Wenn auf die Verweigerung die Jobentlassung oder eine «kurze Haftstrafe» folgt, gelte das als «grosses Glück». «Viele Verweigerer würden solchen Bedingungen zustimmen.»

«Keinem von der Ukraine erzählen»

Der tschetschenische Machtapparat scheint nicht nur auf die Rechte der Männer zu pfeifen, sondern behandelt auch die Familien der verstorbenen Männer bei Weitem nicht mit dem nötigen Respekt.

Der Grossvater (80) eines toten Tschetschenen erzählt dem «Insider»: «Er fuhr nicht freiwillig dorthin. Sagte uns aber nichts, weil er wusste, dass wir Probleme bekommen würden, wenn wir Einspruch erheben würden. Er hat die Familie beschützt, aber ist selbst gestorben.» Ein Polizist sei zum Grossvater gekommen und habe gesagt: «Draussen steht ein Transporter mit den Toten. Geh und hole deinen!» Der Familie sei befohlen worden, den jungen Mann in aller Stille zu begraben. «Wir wurden von der Polizei gewarnt, niemandem von der Ukraine zu erzählen. Wir sollten über unseren Enkel lügen. Einfach sagen, dass er eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht sei.»

Auch eine junge Mutter aus Argun erzählt, dass sie im April die Leiche ihres Mannes still und heimlich erhalten habe. «Ich wollte eine Witwenrente beantragen, aber ich habe kein Geld bekommen. Als ich zu seiner Einheit ging, um eine Sterbeurkunde zu verlangen, sagte man mir, dass ich nichts bekommen würde, weil er angeblich zu den Ukrainern übergelaufen und dort gestorben sei. Sie sagten mir: ‹Verstehst du, was du da verlangst? Sei dankbar, dass der Leichnam gebracht und bestattet wurde.› Und dann wurde ich zwei Wochen lang immer wieder zur Bezirkspolizei vorgeladen und verhört.»

Die Lage in der Republik scheint für viele Einheimische aussichtslos zu sein. Diejenigen, die die Möglichkeit haben, verlassen ihre Heimat. Andere fügen sich den Forderungen. Bei «Vaywond» glaubt man, den Grund zu kennen. «Viele Männer denken, dass es weit weniger schlimm ist, durch eine Kugel zu sterben, als durch Folter.» (man)

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